Raymond Gurême, im Alter von 85 Jahren, in Paris. (25.3.2010)
BERTRAND GUAY, – / AFP / picturedesk.com
BERTRAND GUAY, – / AFP / picturedesk.com
Frankreich

Porajmos-Überlebender Raymond Gurême gestorben

Raymond Gurême, Überlebender des Pojramos – des Völkermords an den Roma und Sinti – starb am vergangenen Sonntag im Alter von 94 Jahren im französischen Évry. Die europäische Roma- und Sinti-Community trauert um den Widerstandskämpfer und Bürgerrechtsaktivisten.

„Bis zuletzt kämpfte er für die Anerkennung des Holocaust an Sinti und Roma, wie auch für die Würde und gleichen Rechte für Sinti und Roma in Europa. Mit seinem Engagement gegen Antiziganismus und Rassismus insbesondere für und mit jungen Menschen erwarb er sich bei allen, die ihm begegnen durften, großen Respekt und Anerkennung“, würdigte Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Raymond Gurême, in einer Aussendung.

„Ihr müsst kämpfen“

Raymond Gurême begleitete mehrfach junge Sinti und Roma im Rahmen der Jugendinitiative „Dikh he na Bister“ (Schau und vergiss nicht) zum europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma nach Krakau und Auschwitz und rief so besonders junge Menschen zum Engagement gegen Antiziganismus und Rassismus auf. „Ihr müsst kämpfen. Kämpfen gegen die Diskriminierung, gegen den Rassismus, gegen die Gewalt, der Roma und Sinti in ganz Europa zum Opfer fallen. Wir, die Alten, haben das Feuer entfacht. Nun ist es die Aufgabe der jungen Leute, es am Brennen zu halten und die Flammen weiter in die Höhe zu treiben“, sagte er bei seiner Rede auf der Gedenkveranstaltung im August 2016 in Auschwitz-Birkenau. Der junge Roma-Aktivist Samuel Mago aus Wien würdigt Raymond Gurême in einem Facebook-Eintrag als „unseren Roma-Helden“, der sein ganzes Leben gegen Ungerechtigkeit gekämpft habe und dessen Stimme auch zukünftig bei jedem Akt des Widerstands dabei sein werde.

Raymond Gurême, im Alter von 85 Jahren, mit seiner Internierungskarte, in Paris. (25.3.2010)
BERTRAND GUAY / AFP / picturedesk.com

Einer der letzten Überlebenden

Raymond Gurême war einer der letzten Überlebenden der sogenannten „Nomaden“-Lager, in die Angehörige der Manouches – wie sich die Sinti in Frankreich nennen – während des Zweiten Weltkriegs gesperrt wurden. Im Oktober 1940 wurde die Familie Leroux-Gurême von französischen Polizisten verhaftet und im naheliegenden Lager Darnétal interniert. Zwei Monate später wurden sie nach Linas-Montlhéry verlegt, einem großen Lager südlich von Paris.

„Interdit aux nomades“ von Raymond Gurême
nicolas trautmann / calmann-lévy

Raymond Gurême: Interdit aux Nomades. Avec Isabelle Ligner. calmann-lévy. 240 Seiten. EAN: 9782702142219. 17.25 Euro

„Interdit aux Nomades“

In seinem 2011 veröffentlichten Buch „Interdit aux Nomades“ (Nomaden verboten), erzählt Gurême seine Geschichte, um die Verfolgung der Sinti in Frankreich allgemein publik zu machen. „Sein Leben war ein ständiger Kampf gegen die Unterdrückung“, sagte gegenüber der Nachrichtenagentur AFP sein Freund François Lacroix und Mitglied des 2010 gegründeten Verbandes, der sich darum bemüht, das Schicksal der internierten französischen Sinti bekannt zu machen (Collectif pour la commémoration de l’internement des Tsiganes et Gens du voyage au camp de Linas-Montlhéry).

Jahrzehntelanges Schweigen

Raymond Gurême hat knapp 60 Jahre über die Verfolgung seiner Familie geschwiegen. Er war im Herbst 1940 erst 15 Jahre alt, als er mit seiner ganzen Familie in der Nähe von Rouen im Nordwesten Frankreichs von der französischen Polizei festgenommen wurde. „Wir hätten nie gedacht, dass andere Franzosen uns wie ein Nichts behandeln würden, wo mein Vater im Krieg von 1914 bis 1918 gekämpft hatte“, sagte Raymond Gurême 2010 gegenüber der AFP.

Aufgrund eines Dekrets im April 1940 wurden die Zwangsansiedlung sämtlicher Angehöriger der Sinti verordnet und in Folge wurde die Menschen in Lager gesperrt. Bis 1946 wurden rund 30 Lager von den französischen Behörden verwaltet, in denen bis zu 6.500 Menschen als sogenannte „Nomaden“ interniert waren. Dies entspricht ungefähr der Hälfte der Sinti-Bevölkerung, die sich 1939 in Frankreich aufhielt.

Flucht und Widerstand

Die Familie, die einen Wanderzirkus und ein Wanderkino betrieben hat, wurde all ihrer Besitztümer samt Wohnwagen beraubt und ins Lager interniert. „Es war schrecklich. Wir hatten nichts mehr, weder zu essen noch konnten wir uns in den Baracken wärmen. Kinder wurden krank, Babys starben, Menschen verkümmerten“, sagte Raymond Gurême im Jahr 2010. Ihm gelang Anfang 1942 erstmals die Flucht, jedoch wurde er denunziert und wieder gefangen genommen. Nach seiner zweiten Flucht, im Juni 1944, schloss er sich der Widerstandsbewegung an. Er trat einer Einheit der „Forces françaises de l’intérieur“ (Französische Streitkräfte im Inneren) bei, die nördlich von Paris Sabotage-Akte ausführte, insbesondere an deutschen Waffen, Verkehrsmitteln und Panzern.

Anerkennung der Verantwortung in 2016

Erst im Jahr 1952 fand Raymond Gurême in Belgien Spuren seiner Familie. Er und seine Verwandten wurden für die erlittenen Verluste nie entschädigt. Präsident François Hollande erkannte 2016 erstmals die Verantwortung Frankreichs für die Internierung der Sinti während des Zweiten Weltkriegs an, in Gegenwart von Nachkommen der Internierten und unter anderem auch von Raymond Gurême.