Menschen transportieren Waren in Pirogen im Slum Makoko in der nigerianischen Hauptstadt Lagos. (19.10.2022)
PIUS UTOMI EKPEI / AFP / picturedesk.com
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Migration

Rücküberweisungen für Befriedung von Grundbedürfnissen

Essen, Bildung, Arztbesuche: Rücküberweisungen von Migrantinnen und Migranten sind enorm wichtig für die Familien zu Hause, darauf weist der deutsche Soziologe und Afrika-Experte Olaf Bernau im Interview mit der APA hin.

„Wie kann Migration gut gestaltet werden zum beiderseitigem Vorteil“, sei für ihn die eigentliche Frage – und nicht, ob es sich bei Zahlungen an das Heimatland um "Missbrauch“ handle, wie es jüngst Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) formulierte.

„Es wird nicht gesehen, dass es ohne Migration und Rücküberweisungen tausende Dörfer nicht mehr gäbe“, sagt Bernau, der über Gesellschaften in Westafrika forscht. Der Großteil der Zahlungen würden in die Befriedigung von Grundbedürfnissen fließen, in „Saatgut, ein bisschen mehr Dünger, einen Ochsen, ein kleines landwirtschaftliches Gerät, etwas, das das Vorortbleiben der anderen absichert“.

Olaf Bernau: Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte
Verlag C. H. Beck

Olaf Bernau: „Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte“, Verlag C.H.Beck, 317 Seiten, 18,95 Euro, ISBN: 978-3-406-78246-6

„Ein homöopathischer Teil“ verlasse Kontinent

Der „allergrößte Teil“ der Menschen in Westafrika emigriert dabei laut Bernau im eigenen Land, ein kleiner Teil gehe in die Nachbarländer, „ein homöopathischer Teil“ verlasse den Kontinent. „Das Bild, halb Afrika sitzt auf gepackten Koffern und will nach Europa, stimmt nicht“, sagt Bernau mit Verweis auf UNO-Studien, beispielsweise der Internationalen Organisation für Migration (IOM).

Demnach verbleiben 97,5 Prozent der Westafrikanerinnen und Westafrikaner in ihrem Geburtsland. Vom den restlichen 2,5 Prozent Menschen gingen zwei Drittel in die unmittelbaren Nachbarländer. Ein Drittel gehe vor allem nach Nord- und Zentralafrika, in die USA und „ein verschwindend kleiner Teil auch nach Europa", so Bernau.

Ökonomische Ungleichheiten

Als einen wichtigen Grund für Migration nennt Bernau „stark asymmetrische ökonomische Beziehungen, die sich immer wieder zugunsten von Europa auswirken. Ein Beispiel: Milchpulver aus der EU überschwemmt westafrikanische Länder". Gebe es zu wenig zu essen, heiße es nicht: „Du darfst nicht mitessen“, berichtet Bernau. „Wer am Tisch sitzt, bekommt zu essen. Die Portionen werden aber kleiner. Das ist der Geist des Alltagslebens.“ Wer emigriert sei, habe aus Sicht der Familie eine große Verantwortung, nämlich das, was man habe, zu teilen.

„Wechselseitige Unterstützung“

Im Durchschnitt verdienten Migrantinnen und Migranten aus afrikanischen Ländern 1.040 Euro, wenn sie arbeiten würden, heißt es in der UNO-Studie „Scaling Fences“. Davon gehe ein Drittel nach Hause. „300 Euro ist für westafrikanische Länder wirklich viel“, sagt Bernau. Überwiesen wird aber von Beginn an, sobald etwas Geld da sei. Das könnten einmal 25 Euro, einmal 40 Euro sein, so Bernau. „In den westafrikanischen Ländern wie Mali oder Nigeria gibt es keine Renten-, Kranken- und Sozialversicherung, kein Arbeitslosengeld. Man ist auf wechselseitige Unterstützung angewiesen.“

Menschen begreifen sich nicht als „Geflüchtete“

Als „Geflüchtete“ begreifen sich viele der Menschen laut Bernau dabei nicht. Eine Möglichkeit, als Arbeitsmigrant oder Arbeitsmigrantin nach Europa zu kommen, gebe es aber nicht – deshalb seien die Betroffenen gezwungen, einen Asylantrag zu stellen. „Es ist auch ein völliger Irrtum anzunehmen, dass junge Leute damit zufrieden wären, wenn sie den ganzen Tag herumhängen und Sozialhilfe beziehen. Das bringt auch kein Standing bei den Familien, die es auch lieber sehen, wenn sich die betreffende Person selbst finanziert“, sagt Bernau.

Mobilität, Migration und Fachkräftemangel zusammen denken

Bernau schlägt vor, Mobilität, Migration und Fachkräftemangel zusammen zu denken. Deutschland beispielsweise fehlten schon jetzt hunderttausende Fachkräfte. „Man muss Rechtspopulisten vorwerfen, den Standort zu beschädigen", sagt der Soziologe. „In Deutschland machen Arbeitgeber- und Handwerkerverbände schon relativ viel Druck: ‚Unsere Betriebe funktionieren nicht mehr, uns fehlt Personal, wir bekommen keine Lehrlinge mehr und wenn das so weitergeht, muss man den Laden zumachen.‘ Das ist die Realität, der man sich stellen muss.“

Perspektive auf Einwanderungsmöglichkeiten geben

Bernau empfiehlt daher, das Schulsystem vor Ort in Westafrika zu unterstützen und jungen Menschen schon früh eine Perspektive auf Einwanderungsmöglichkeiten zu geben. „Die Menschen haben also einen Ausbildungsvertrag für Österreich oder Deutschland in der Tasche, sie wissen genau, wann es losgehen wird. Das ist gekoppelt an Sprach- und Vorbereitungskurse und Zusatzausbildungen vorab", sagt Bernau. „Dann wird es immer noch welche geben, die das Auswahlverfahren nicht schaffen und sich auf den Weg machen, aber weit weniger. Niemand hat außerdem Lust, sein Leben zu riskieren.“

(Das Interview führte Christine Zeiner/APA)