Andrè Heller und Mirjam Helminger
ORF
ORF
Let’s go viral!

Mit weitem Blick und offenem Herzen auf der Suche

Wie sollen junge Menschen ihr Leben in Angriff nehmen, wenn ihnen vermittelt wird, dass sie wegen ihrer Hautfarbe oder wegen ihrer Herkunft nicht zur Gesellschaft gehören?

Logo „Let’s go viral!“
Ana Grilc

Dieser und anderen Fragen zu Perspektiven und Chancengleichheit ging die „Let’s go viral!“-Redakteurin Mirjam Helminger im Interview mit André Heller, einem der bekanntesten Künstler Österreichs, nach.

Herr Heller, sie sind bekannt dafür, die unglaublichsten Ideen zu verwirklichen. Wie gelingt ihnen das und wann hat das alles begonnen?

Heller: Begonnen hat alles in meiner Kindheit, wo das Hauptangebot Entmutigung war. Ich fühlte mich nicht aufgrund meiner Hautfarbe, sondern aufgrund meiner Fantasie ausgegrenzt. Ab meinem fünften Lebensjahr bekam ich zu hören: Das ist ein spinnertes Kind! Das ist keiner von uns! Der ist nicht zu Hause in unserer Wirklichkeit, der ist verloren in Träumen und Träumereien! Du glaubst, du bist was Besseres!

Haben sie geglaubt, dass sie was Besseres sind?

Heller: Ich habe nicht gedacht, dass ich was Besseres bin, aber ich habe mir gedacht: Ich bin was ganz anderes. Ich habe mich dann eingerichtet in dieser Position des Freaks und ich schwor mir, dass ich diesem Freak treu bleibe und ihn nicht im Stich lasse. Da mich niemand ermutigte, fasste ich selbst Mut und beschloss Dinge auszuprobieren. Ich wusste, dass ich meinen Talenten die Chance geben musste, stattzufinden.

Hatten sie keine Zweifel?

Heller: Wenn man eine Begabung hat, kann die Frage auftauchen: Warum soll gerade ich die Chance haben, das zu tun? Ich bin doch einer oder eine unter Milliarden. Die Berechtigung dafür liegt in einem selbst. Ich habe viel später ein Buch geschrieben: Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein. Man muss das innere Kind ernst nehmen! Man darf es nicht traurig und krank machen, es nicht bedrohen oder mit einer Lieblosigkeit erwürgen.

André Heller im Gespräch mit Mirjam Helminger
ORF

Was hat das konkret für sie bedeutet?

Heller: Ich habe aus diesem Gefühl abgeleitet: Schau, dass du viele Berufe ausprobierst. Schau, dass du viele Reisen unternimmst und viele Menschen kennenlernst. Das Ziel war, auf die Suche zu gehen und dass mit weitem Blick und offenem Herz.

Ist das auch etwas, dass sie uns jungen Menschen, die ja per se Suchende sind, raten?

Heller: Mir ist wichtig, dass ihr wisst, dass ihr euch entwickeln und irren dürft. Irrtum was ganz Wesentliches im Leben. Peter Altenberg hat gesagt: „Sei der du bist in allem und in jedem und wenn du stürzest, dann sei es dein eigener Abgrund, in den du fällst und nicht der anderer Leute.“ So viele Leute verenden in den Abgründen anderer. Es ist wichtig, dass ihr jungen Menschen wisst, dass es euch geben darf. Ihr seid ein Geschenk und keine Belastung.

Wenn junge Menschen scheitern, sind sie oft entmutigt und fühlen sich wertlos. Waren ihre Anstrengungen immer erfolgreich?

Heller: Wenn was misslingt, dann ist es kein Misslingen, das muss man auch laut und deutlich sagen. Es ist nur eine Erfahrung mehr, eine Auskunft darüber, was man kann und was nicht. Das weiß man ja nur, wenn man etwas ausprobiert. Dann muss man aufstehen und weiterziehen. Wenn man mit aller Gewalt sagt, dass etwas gelingen muss, wird es schwierig. Ich mache alles im Bewusstsein, dass ich auf eine Expedition gehe und was immer herauskommt bei dieser Expedition wird interessant sein.

Wenn man sich auf diese Expeditionen begibt, lauern da sicher auch Fallen. Wie lange hat man Zeit für dieses Experimentieren?

Heller: Es gibt Leute, die in Pension gehen und sagen: Jetzt habe ich es hinter mir! Gar nichts hat man hinter sich. Man kann sich bis zum letzten Atemzug verändern und verwandeln. Man kann in jedem Alter immer noch ein Neuer werden. Es kann Ereignisse geben, die in unserem Leben so machtvoll sind, dass es einen innerhalb von zehn Sekunden wohin schleudert, wo man nie gedacht hätte, dass man dort landet. Ich werde nicht müde zu sagen, dass man als Entwurf eines Menschen geboren wird. Die Aufgabe ist, aus diesem Entwurf, etwas Gelungenes zu schaffen. Also Menschsein ist unter anderem auch ein Handwerk, das man lernen muss.

Was sind dabei Fragen, die man sich stellen sollte, wenn man dieses Handwerk erlernen will?

Heller: Fragt Euch, wovon ihr Euch einschüchtern lasst. Wem kann ich mich entspannt stellen? Wo sollte man sich auf der Stelle umdrehen und weggehen? Das alles kann man ja nicht von vornherein wissen. Man muss lernen, die Anzeichen, die eine Situation ausstrahlt zu erkennen. Erst dann kann man wissen, ob man sich etwas zumutet oder nicht. Generell ist für mich wichtig: Was immer ich tue, bringe ich zu dem Punkt, wo ich sage, das ist das Beste, was ich zum jetzigen Zeitpunkt zusammenbringe. Umarmen wir dankbar das, was uns gelungen ist und umarmen wir dankbar das, was uns noch nicht gelingt – beides ist kostbar. Und noch ein Ratschlag. Wenn die Eltern, LehrerInnen und Chefs als Entmutige auftreten, dann muss man sich auf der Welt seine Verwandtschaft suchen. In jedem Fall sollte man aber immer mit sich selbst liebevoll umgehen.

Andrè Heller und Mirjam Helminger
ORF

In Österreich wird Menschen mit Migrationshintergrund oft das Gefühl gegeben, kein Teil der Gesellschaft zu sein. Haben sie damit selbst schon einmal damit Erfahrungen gemacht?

Heller: Ich stamme aus einer jüdischen Familie und mein Vater konnte vor den Nazis fliehen und ging in England und Frankreich in den Widerstand. Viele aus meiner Familie hat es erwischt. Nach dem Krieg waren in unserer wohlhabenden Industriellenfamilie (Zuckerlfabrik) die Verbrechen der Nazis und die offenen Wunden, die sie hinterlassen haben, kein Thema. Erst nach dem Tod meines Vaters, da war ich schon 12, ließen sich mich im Internat zu spüren, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte.

Aus der Internatszeit stammt auch der Satz ihres Lehrers an sich gerichtet: „Setzt Euch nicht neben den Heller, in seinen Adern fließt böses Blut!“. War das nicht schrecklich für sie?

Heller: Mir wurde durch diesen Satz vieles klar und der Schmerz hat mich lange begleitet. Heute weiß ich, dass diese Nazis oft einfach verbohrte, sich selbst nicht leiden könnende Menschen sind, die dann diesen Selbsthass, das Dumpfe und die Primitivität, die sie Tag und Nacht empfinden, auf andere übertragen.

Es kommt mir vor, als würden auch immer mehr junge Menschen diesem Fluch verfallen. Worin liegen die Gründe für rassistisches, nationalistisches Auftreten?

Heller: Es wurzelt im fehlenden Bewusstsein, dass wir nur, weil wir in Österreich geboren wurden oder leben, den Haupttreffer gemacht haben. Österreich ist ein Land, das einem alles an Schönheit und Qualität zu bieten hätte. Teil dieser Schönheit ist die Integration von anderen Begabungen, von anderen Visionen, von anderem Ausschauen. Mir kann ein Volk gar nicht durchmischt genug sein. Wir sollten uns alles an Anregung als Erfrischung, als ein Wachstumshormon hereinholen. Nur so kann dieses Land immer gescheiter, strahlender, fähiger und international vernetzter werden. Diese Abschottungsfantasien halte ich für eine Katastrophe.

Wenn man, wie ich täglich von Alltagsrassismus betroffen ist, kann man leicht den Mut verlieren. Was raten sie Menschen mit offensichtlichem Migrationshintergrund, die sich mit dieser täglichen Gewalt auseinandersetzten müssen?

Heller: Mir ist klar, dass es für sie nicht einfach ist. Ich rate ihnen, sich die Freude, Zuneigung und Solidarität von Menschen guten Willens wie einen Mantel anzuziehen, um sich vor diesen Angriffen zu schützten. Gehen wie eine Königin durch das Plumpe und das Herabsetzende. Menschen mit Migrationsbiografie in Österreich müssen wissen, dass sie nicht allein sind.

Sie arbeiten und leben in Afrika, eigentlich sind sie auch ein Migrant. Wie ist die Liebe zum Kontinent entstanden?

Heller: Ich bin in Hitzing, in der Nähe von Schönbrunn aufgewachsen. Ich ging oft in den Park, denn dort steht ein Palmenhaus. Es war mit großen Räumen versehen, die unterschiedliche Temperaturen hatten. Mich zog es immer in den Tropenteil, in den afrikanischen Teil, und ich wusste: Das entspricht mir tausend Mal mehr, als was ich in Österreich kenne. Das nennt man wohl Seelenverwandtschaft. Als Zwanzigjähriger fuhr ich das erste Mal auf den afrikanischen Kontinent, nach Kenia und Uganda.

Hat sie Afrika verändert?

Heller: Alles war mir unglaublich selbstverständlich dort. Damals war ich jung, sehr hochmütig, andere bewertend und sehr herablassend. Grund dafür war meine Unsicherheit. Ich hatte noch kein gutes Selbstwertgefühl. In Afrika konnte ich plötzlich allem Achtung entgegenbringen. Und ich habe bald eine neue Perspektive auf die Welt bekommen. Wenn ich aus Afrika zurückgekommen bin, wurde mir klar, was für ein Luxus es ist, dass wir einen Wasserhahn aufdrehen und es kommt Trinkwasser heraus. In Kenia sind damals Frauen oft drei Stunden in eine Richtung mit einem Wasserbehälter am Kopf gegangen, nur um Wasser zu holen. Mir wurde unser Größenwahn bewusst, dass die Menschen hier glauben, es würde uns noch mehr zustehen. Ab da bin ich dann eigentlich jedes Jahr meines Lebens nach Afrika gefahren.

Künstler Andre Heller
ORF

Der afrikanische Kontinent hat sie also herzlich aufgenommen. Ist das der Grund, warum sie sich begannen für die AfrikanInnen zu engagieren?

Heller: Mir wurde klar, ich brauche ein Projekt, das Arbeitsplätze schafft. Mit der Show „Afrika, Afrika!“ konnten wir Jobs für Hunderte afrikanische KünstlerInnen schaffen. Neben dem Geld haben auch die Standing Ovations viel für das Selbstwertgefühl dieser jungen fantastischen Könner getan. In Marokko, in unserem Garten „Anima“ haben wir zwischen 50 und 70 MitarbeiterInnen. Wir haben auch eine Schule gebaut, wo Frauen und ihre Kinder gemeinsam lesen und schreiben lernen. Wir konnten die Wasserversorgung für 1.000 Menschen in der Umgebung sicherstellen.

Sehen sie diese Hilfe als Entwicklungsarbeit?

Heller: Wir entwickeln uns gemeinsam und sind füreinander verantwortlich. Wir alle müssen verstehen, dass jeder mit jedem verbandelt ist und uns nichts trennt. Ihre Not ist meine Not und meine Not ist ihre Not. Mitgefühl heißt, dass wir füreinander einstehen und das tun wir in Anima. Diese unsägliche Angst vor dem Fremden ist eine Katastrophe. Dieser Glaube, man könnte was Besseres sein als der andere. Dabei ist völlig klar, dass das ausgeschlossen ist.

Es heißt in der Menschenrechtserklärung, dass wir alle mit der gleichen Würde und mit den gleichen Rechten geboren werden. Was müsste sich in der Haltung der Menschen ändern, dass das Wirklichkeit wird?

Heller: Was wir brauchen – Tag und Nacht – ist, dass uns eine Welt umgibt, die sagt, dich darf es geben. So wie du bist, bist du schön, bist du kostbar, bist du unersetzlich. Es muss möglich sein, inmitten von Wundern selbst ein Wunder zu sein. Wenn die Menschen sich zu dieser Haltung bequemen könnten, dann könnten wir uns auf jeder Straße der Welt unbehelligt, nicht kritisiert oder vorverurteilt wohlfühlen.