Neurowissenschaftler Henning Beck
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Let’s go viral!

Hippocampus, Sherlock Holmes und Gedächtnispaläste

Wenn du nicht mehr weiter weißt, frag einen Hirnforscher. Das haben wir getan. Ein Star in der Szene der Neurowissenschaftler, Henning Beck aus Deutschland, hat uns per Skype ein revolutionäres Interview gegeben.

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Ana Grilc

Becks Motto lautet wie sein aktuelles gleichnamiges Buch „Das neue Lernen heißt Verstehen!“ Die Thesen des Professors stellen vieles, was wir jeden Tag in der Schule erleben und leben, infrage. Ein Interview über die Warmhalteplatte des Gehirns, den Hippocampus, über LehrerInnen die Fragen stellen, auf die niemand noch die Antwort weiß, neue Methoden in Singapur, was Bill Gates mit Mehlsäcken zu tun hat, Sherlock Homes und Schulaufgaben für James Bond-Bösewichte – so cool kann Hirnforschung sein.

Was ist Lernen eigentlich, Herr Professor Beck?

Beck: Klassischerweise ging man davon aus, dass Lernen eine Art Abspeicherungsprozess ist. Das heißt, dass man dem Gehirn Informationen füttert, das Gehirn speichert diese ab und man kann sie dann jederzeit abrufen. Aber so funktioniert das Gehirn nicht. Das Gehirn ist keine Festplatte, wo man Daten speichert. Erst wenn man sich selber mit den Dingen beschäftigt, wenn man im Austausch mit anderen Fragen stellt, ist man in der Lage die Dinge auch zu verstehen. Dann beginnt das eigentliche Speichern bzw. Lernen.

Was passiert beim Lernen im Gehirn?

Beck: Die Informationen, die wir aufnehmen, sind zuerst zu viel für unser Gehirn, deshalb landen sie auf einer Warmhalteplatte, dem Hippocampus. Während wir schlafen, präsentiert dieser Hippocampus die Infos noch einmal dem Großhirn. Diese Region im Gehirn ist auch dafür zuständig, dass wir Erinnerungen aufbauen und das wir uns räumlich orientieren. Da zeigt sich, dass das Räumliche mit der Merkfähigkeit eng verknüpft ist. Wir denken immer in Mustern in einer Räumlichkeit und das sollte man in Zukunft in der Bildung nicht unterschätzen.

„Das neue Lernen heißt verstehen“  von Henning Beck
Ullstein Buchverlage

Henning Beck: „Das neue Lernen heißt verstehen“, Ullstein Buchverlage, 272 Seiten, ISBN: 9783550200496, 20,60 Euro

In Singapur sind die SchülerInnen immer wieder ganz vorne bei allen Testungen. Man kann nicht sagen, dass dort in der Schule nicht gedrillt wird. Das ist doch ein Widerspruch, oder?

Beck: In Singapur dreht man derzeit dieses Rad zurück. Früher war dort der Unterricht sehr frontal, sehr verschult. Unbemerkt von der Weltöffentlichkeit dreht die Schulbehörde in den letzten Jahren dieses Rad zurück. Jetzt stehen Gruppenarbeiten, Workshops und Arbeitsgemeinschaften im Vordergrund. Sie haben festgestellt, dass es nicht darauf ankommt, gut zuzuhören, um in einem Test viele Punkte zu kriegen. Die SchülerInnen müssen sich mit einem Problem aktiv selber beschäftigt. Je passiver der Unterricht ist, desto weniger muss ich mitdenken.

Das kenne ich von Sherlock Holmes, der baut sich immer einen Gedächtnispalast und geht dann durch die Zimmer, um eine Erinnerung abzurufen.

Beck: Genau das ist der Zugang. Die Frage, die man sich in der Bildung immer stellen muss, ist: Will ich, dass die SchülerInnen gut Tests knacken können oder will ich Leute, die in der Zukunft vermögen, die Welt zu gestalten? Menschen, die Fragen stellen und Antworten finden können, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Wenn ich das zweite will, dann muss ich schauen, dass meine Bildung, meine Lehrmethoden nicht darauf ausgelegt sind, Informationen in ein Gehirn hineinzuladen. Die SchülerInnen müssen aktiv selber mitdenken.

Das ist aber ein viel demokratischerer Unterricht, oder?

Beck: Die LehrerInnen müssen den SchülerInnen kreative Aufgaben geben. Sie müssen den Kindern und Jugendlichen Fragen stellen, deren Antworten sie selbst nicht kennen. Hier geht es um Ermutigung und Austausch in der Gruppe. Auf Dauer führt das zu einem viel besseren Verständnis der Dinge. Das ist echtes Lernen.

Eines ist sicher, die Zukunft wird digitaler. Dann ist es sicher gut, dass wir uns in der virtuellen Welt auskennen und vor allem auf diesem Gebiet geschult werden?

Beck: Na ja, viele Studien – und wissenschaftliche Studien sind das Rückgrat meiner Arbeit – sehen das Digitale maximal als Ergänzung zum Analogen. Bill Gates, der Erfinder von Microsoft, hat ein Interview dazu gegeben. Er beschreibt, was man in Zukunft alles virtuell und digital machen wird. Weniger Dienstreisen, mehr Online-Konferenzen, aber die Schulbildung hat er davon ausgenommen. Ihr jungen Menschen müsst nicht lernen, wie man Wissen von A nach B bringt, wie einen Sack Mehl, sondern Wissen bedeutet, dass ihr lernen müsst, aktiv mitzudenken.

Wir sind in der Schule immer wieder mit Ausgrenzung, Mobbing und auch Rassismus konfrontiert. Haben sie da als Neurowissenschaftler einen Rat parat?

Beck: Dazu hat Abraham Lincoln, der 16. Präsident der USA, einen schönen Spruch gesagt: „Ich mag diesen Mann nicht, ich muss ihn noch besser kennenlernen!“ Es ist diese Neugier, die Gesellschaften, Unternehmen und Gruppen von Menschen erfolgreich macht.

Dann sind die Folgen von Ausgrenzung, Mobbing und auch Rassismus ein Schuss ins eigene Knie?

Beck: Das könnte man so sagen, nur ein Unternehmen, eine Schulklasse, die gelernt hat, Probleme gewaltfrei auszuverhandeln, ist langfristig erfolgreich.

Wir mussten in der Coronakrise praktisch über Nacht in den Heimunterricht und mussten uns mit dem Lernen per Computer zurechtfinden. Nicht nur wir SchülerInnen, sondern auch die LehrerInnen haben das am Anfang nur schwer zustande gebracht. Worin liegen derzeit aus ihrer Sicht die größten Gefahren?

Beck: Es ist sicher nicht leicht, klassische Lehrmethoden nun auf eine neue Technik anzuwenden. Bei all dem muss eines im Fokus bleiben: Die besten Lehrer, die ich in der Schule hatte, haben mir die besten Fragen gestellt. Sie haben mir nicht Antworten diktiert, die ich dann auswendig lernen sollte. Dieser Zugang wird jetzt im Digitalen umso wichtiger. Plötzlich sitzen alle vor Bildschirmen, aber die Aufgabe bleibt, wie ich nun über dieses Medium die SchülerInnen neugierig mache und sie provoziere Fragen zu stellen.

Wie könnte das konkret aussehen? Eine Aufgabe, wo wir nicht schon vor den Bildschirmen einschlafen?

Beck: Ein Beispiel. Eine Hausaufgabe im Corona-Lockdown könnte lauten: „Stellt euch vor, ihr seid ein James Bond-Bösewicht und wollt ein tödliches Virus entwickeln.“ In dieser Aufgabe müssen die SchülerInnen dann erklären, wie funktioniert so ein Virus, macht das Virus hochansteckend usw. Es ist Zeit, den Unterricht ein bisschen umzudrehen. Alle lernen von allen – das ist die erfolgreichste Technik. Sie wird sich in Zukunft auch durchsetzen.

Henning Beck ist ein deutscher Neurowissenschaftler, Biochemiker, Science Slammer und Bestsellerautor, der Wissenschaft verständlich vermittelt will. Zuletzt ist sein Buch „Das neue Lernen heißt verstehen“ in den Ullstein Buchverlagen erschienen.