Tschetschenen demonstrieren nach dem Mord in Gerasdorf vor der russischen Botschaft in Wien. (7.7.2020)
ALEX HALADA / AFP / picturedesk.com
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Diaspora

Österreich für Tschetschenen wichtiges Zielland

Etwa 35.000 Tschetschenen dürften in Österreich leben, mehrheitlich kamen sie vor eineinhalb Jahrzehnten als Flüchtlinge ins Land.

In Ermangelung von Sprachkenntnissen sowie angesichts auch kriegsbedingter Bildungsdefizite blieb die Integration schwierig. Vereinzelte Bluttaten erinnern die Diaspora zudem an einen langen Arm des brutalen Regimes von Ramsan Kadyrow in der Heimat am Kaukasus.

Russland gegen Abspaltung der Tschetschenen

Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte es Anfang der 1990er Jahre fast so ausgesehen, dass es 140 Jahre nach der militärischen Niederlage gegen das Russische Imperium wieder so etwas wie eine Eigenstaatlichkeit des stolzen Volkes der Tschetschenen geben könnte. Doch abgesehen vom schwierigen Aufbau eines Staatswesens wollte die Russische Föderation eine Abspaltung nicht akzeptieren: 1994 schickte Präsident Boris Jelzin auf Zuruf von Hardlinern Truppen zur „Wiederherstellung der verfassungsgemäßen Ordnung“.

Erstarkte islamistische Kräfte

Im August 1996 und nach geschätzten 25.000 Toten später endete dieser 1. Tschetschenienkrieg mit der temporären Akzeptanz eines quasi-unabhängigen Itschkerien – so die Eigenbezeichnung – durch Moskau. Innenpolitisch schwächten die Folgen dieses Krieges jedoch die säkulare Nationalbewegung und islamistische Kräfte erstarkten. Letztere zündelten in der Nachbarschaft.

Autoritär regierte Teilrepublik durch Kadyrow

Nach einer militärischen Intervention von Islamisten im benachbarten Dagestan startete Moskau im August 1999 eine „antiterroristische Operation“. Dieser 2. Tschetschenienkrieg sorgte nicht nur für einen Blitzstart der ganz großen politischen Karriere des damaligen Premierministers Wladimir Putin, sondern auch für weitere 10.000 bis 20.000 Tote und ein Ende eigenstaatlicher Ambitionen. Unter dem zu den „Föderalen“ (Russland, Anm.) übergelaufen Ex-Mufti Achmat Kadyrow entstand die wahrscheinlich am autoritärsten regierte Teilrepublik der Russischen Föderation. Kadyrow starb 2004 bei einem Terroranschlag, seit 2007 regiert sein Sohn Ramsan.

Flucht aufgrund von politischer Verfolgung

Vor dem Hintergrund der Angst vor politischer Verfolgung fällten nach dieser russischen Machtübernahme tausende Tschetschenen die Entscheidung zur Flucht. Andere Regionen Russlands waren für viele nach den Erfahrungen mit der russischen Armee keine Option und es zog sie zunächst nach Belgien, Frankreich und Österreich, wo angesichts manifester Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien jeweils viele Tausende Asyl bekamen. Später avancieren Deutschland und Norwegen zu weiteren wichtigen Zielländern. Hintergrund dieser beschränkten Länderauswahl dürften Cluster von Flüchtlingen gewesen sein, zu denen sich dann jeweils weitere Landsleute gesellten, um sich wechselseitig helfen zu können.

Spektrum des tschetschenischen Widerstands

Österreich spielte und spielt für die tschetschenische Diaspora eine zentrale Rolle: Bis 2006 waren geschätzte zwei Prozent der gesamten Bevölkerung der nunmehrigen russischen Teilrepublik ins Land gekommen, heute könnten fast drei Prozent aller Tschetschenen in Österreich leben. Auch das Spektrum des tschetschenischen Widerstands gegen Russland ist hier vertreten: Neben eher älteren Proponenten eines unabhängigen säkularen Staates Itschkerien, darunter der nunmehrige Exilpolitiker Khuseyn Iskhanov in Wien, immigrierten auch jüngere, eher verdeckt agierende radikale Islamisten. Letztere wurden zwischenzeitlich in Österreich vom 2017 in Georgien getöteten Terrorverdächtigen Achmed Tschatajew angeführt.

Islamistische Propaganda

Islamistische Propaganda spielte aber auch in einer heißen Phase des syrische Bürgerkriegs um 2012/13 eine problematisch Rolle: Mehrere hundert junge Tschetschenen in Europa, die vielfach kriegsbedingt in ihrer früheren Kindheit kaum Schulen besucht hatten, ließen sich manipulieren und zogen zum Entsetzen ihrer Eltern in den Jihad nach Syrien.

Gute Vernetzung innerhalb der Community

Die überwiegende Mehrheit der europäischen Tschetschenen zeigt indes weder an Itschkerien noch am radikalen Islamismus Interesse. Nach Außen ist die patriarchalisch geprägte Volksgruppe eher verschlossen, unter einander ist man aber auch in der Emigration äußerst gut vernetzt. Dieser Informationsfluss hat sich in den letzten Jahren dank Instant-Messaging-Diensten wie WhatsApp deutlich beschleunigt. Zu beobachten war dies auch beim aktuellen Tötungsdelikt mit Tschetschenienbezug in Gerasdorf bei Wien: Noch bevor Namen zu österreichischen Journalisten durchsickerten, machten die Identität des Opfers sowie der mutmaßlichen Täter bereits die Runde in der tschetschenischen Community.

Sichtbarer durch Infomartionen im Netz

Das Internet und seine Möglichkeiten führten aber auch dazu, dass einerseits Informationen aus der Heimat ohne Verzögerung verfügbar waren und andererseits die Diaspora in Tschetschenien selbst deutlich sichtbarer wurde. Letzteres verstört den autoritär regierenden Potentaten Ramsan Kadyrow: Abgesehen davon, dass tausende emigrierte Tschetschenen kraft ihrer Biografie automatisch an eine problematische Vorgeschichte seines Regimes erinnern, bereitet ihm unzensurierte Kritik wenig Freude. Manche Handlungen von Kadyrow und seinem Umfeld erinnern dabei an jene des jungen sowjetischen Staats, der seinerzeit Teile der westeuropäischen Emigration zur Rückkehr aufforderte. Gleichzeitig ließen Lenin und Co. aber auch erbitterte Gegner der Bolschewiken vom Geheimdienst exekutieren oder entführen.

Schwerer sozialer und wirtschaftlicher Aufstieg

Im Unterschied zu gebildeten und vielsprachigen Emigranten aus der frühen Sowjetunion fehlt den heutigen tschetschenischen Flüchtlingen oft ein derartiges soziales Kapital, das sich auch am Arbeitsmarkt verwenden ließe. Der soziale und wirtschaftliche Aufstieg im Exil fällt schwer, traditionell kinderreiche Familien sind in vielen Fällen zudem von Sozialhilfe abhängig. Letzteres führt dazu, dass der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft massiv erschwert wird. Als der damalige FPÖ-Innenminister Herbert Kickl 2018 in Moskau über schnellere Abschiebungen nach Russland verhandelte, kursierte unter österreichischen Tschetschenen daher auch eine gewisse Angst, einen langjährigen Asylstatus zu verlieren und in die Russische Föderation deportiert zu werden.