Gerichtsmedizinerin Cristina Cattaneo will den Toten im Mittelmeer durch deren Identifizierung einen Namen geben. (3.9.2019)
CHRISTOPHE ARCHAMBAULT / AFP / picturedesk.com
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Italien

Den Toten aus dem Mittelmeer einen Namen geben

Die italienische Gerichtsmedizinerin Cristina Cattaneo hat es sich zur Aufgabe gemacht, den tausenden Migranten, die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken sind, einen Namen zu geben.

Seit 2013 versucht ihr Labor an der Universität von Mailand, die Toten anhand von Fotos, Briefen oder anderen persönlichen Gegenständen zu identifizieren. Ihren ziemlich einsamen Kampf führe sie vor allem für die Angehörigen der Opfer, sagte Cattaneo in einem Gespräch mit AFP. „Die Toten müssen identifiziert werden – nicht für die Toten selbst, sondern für die Lebenden. Menschen müssen ihre Toten begraben und betrauern können“, sagte sie.

„Naufraghi senza volto“

Seit Jahren versuchen Cattaneo und ihre Kollegen, mit Hilfe von DNA-Abgleichen, der Analyse von Gebeinen und besonderen Merkmalen den anonymen Opfern eine Identität zu geben. Über ihre Arbeit hat sie in Italien ein Buch veröffentlicht, „Naufraghi senza volto“ (Schiffbrüchige ohne Gesicht).

Schiffsunglücke im Jahr 2013

Auslöser ihrer Mission war der Oktober 2013, als vor der Insel Lampedusa ein Schiff mit hunderten Flüchtlingen aus Eritrea kenterte und mehr als 360 von ihnen ertranken. 18 Monate später stieß ein weiteres mit Flüchtlingen überfülltes Schiff, die „Barcone“, mit einem portugiesischen Frachter zusammen, der zu seiner Rettung herbeigeeilt war; mindestens 800 Menschen ertranken.

Aufbau einer europäischen Datenbank

Cattaneo wurde damals gebeten, beim Aufbau einer europäischen Datenbank mit DNA-Proben und anderen Hinweisen zu helfen, um Angehörige bei der Suche nach den Toten zu unterstützen. Die DNA von insgesamt 528 Opfern aus der „Barcone“ sowie 20.000 Gebeine konnten gesammelt werden, doch nur 40 von ihnen konnte bisher ein Name zugeordnet werden. „Es bleibt viel zu tun, aber wir haben gezeigt, dass es möglich ist, sie zu identifizieren“, sagte die Gerichtsmedizinerin AFP.

„Auch eine Frage der Menschenrechte“

Finanziert wird ihre mühsame Suche von einigen Universitäten, religiösen Stiftungen sowie einer Bankenstiftung. Cattaneo rief andere europäische Staaten und Institutionen auf, ihre Arbeit mit Geld und Expertise zu unterstützen. „Nur Europa hat die Kapazität und das Rüstzeug – und die Pflicht – dieses Problem anzugehen. Das ist auch eine Frage der Menschenrechte“, sagte sie.

Gewissheit für die Angehörigen

Nach ihren Angaben hilft die Gewissheit Angehörigen von Toten nicht nur in ihrer Trauer: Ohne Totenschein ist es für sie zudem oftmals unmöglich, finanzielle Unterstützung zu bekommen. Zudem helfen Totenscheine bei der Familienzusammenführung – etwa, um junge Waise mit Verwandten zusammenzubringen.

Mehr als 300 Familien gemeldet

Inzwischen haben sich mehr als 300 Familien gemeldet, um zu erfahren, ob Angehörige von ihnen auf der „Barcone“ waren – oftmals mit Unterstützung des Internationalen Roten Kreuzes in Afrika. „Als wir zu Jahresbeginn die ersten beiden Opfer identifizierten, war es, als würden wir den Familien etwas zurückgeben, was ihnen genommen worden war“, berichtete Cattaneo.

Anlaufstellen für Angehörige schaffen

Die Regierungen müssten sich endlich für das Problem interessieren und weitere Anlaufstellen für Angehörige schaffen, forderte sie und fügte hinzu: „Auch wenn es ‚nur‘ um Tote geht, sehen wir, dass unsere Arbeit Gutes bewirkt und einen Sinn hat.“