Spiegelgrund | Nicht zu schreiben wäre „Betrug an der Literatur“

„Die Geschichte soll wahrhaftig sein. Es sollen wirkliche Menschen dargestellt werden, die wirkliche Leben an wahrhaftigen Orten leben. Das Schwierige an der Forschungsarbeit war, mich in die Mentalität, in die Gedankengänge der am Spiegelgrund tätigen Schwestern einzufühlen", schildert der Autor des Romans „Die Erwählten“ Steve Sem-Sandberg im Interview für Rádio Dia:tón.

On demand | Rádio Dia:tón | 18.1.2016

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Steve Sem-Sandberg in der Alten Schmiede in Wien

y. strujic | ORF

Rádio Dia:tón 18.1.2016 um 21:40 Uhr | Radio Burgenland Livestream

"...Wie war es beispielsweise für Frau Mutsch möglich zu denken, dass es die Kinder waren, die ihr etwas angetan haben, die sie dazu brachten, ihnen solche Dinge anzutun. Als wäre sie selbst das Opfer gewesen“, ergänzt der Autor.

In der Entstehungszeit seines früheren Romans „Ravensbrück“ (2003) über Milena Jesenská, die zeitweilige Freundin von Franz Kafka, lebte der ursprünglich aus Stockholm stammende Autor für einige Jahre in Prag. Der nachkommende Roman „Die Elenden von Łódź“ entstand schon teilweise in Wien und für die Verarbeitung eines Stücks düsterster österreichischer Geschichte sollte die Hauptstadt Sem-Sandberg noch einige Jahre beibehalten. Die Sprachen Tschechisch und Deutsch sind diesem Mann nun zumindest genauso vertraut, wie einige Persönlichkeiten, die diese Länder im Wesentlichen prägten. Die Art einer einfühlsamen Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse in den Werken Sem-Sandbergs belegt, dass Mitgefühl schafft, worum sich Herkunft und Zugehörigkeitsgefühl sehnend bemühen.

"Die Erwählten" | Steve Sem-Sandberg

Klett-Cotta Verlag

Der Geist von Opfern und Tätern in der „Alten Schmiede“

Der Kunstverein „Alte Schmiede“ in einer verträumten Gasse in der Wiener Inneren Stadt wirkt abends, im Halbschatten des gedämmtes Laternenlichts wie die lebendige Vergangenheit. In den nach Neubeginn riechenden ersten Jännertagen trägt ein Autor den mit unerträglich erdrückender Altlast behafteten Teil der Vergangenheit in die unterirdischen Räumlichkeiten der einstigen Werkstatt. Es ist Sem-Sandberg, der in seinem Roman als Schmied, der grausamen wahren Geschichte, die sich in den Jahren des Zweiten Weltkriegs in der damaligen städtischen Kinder- und Jugendfürsorgeanstalt "Am Spiegelgrund“, auf dem Steinhof-Areal befunden hat, einen ewig währenden Geist eingehaucht hat.

Einzige Lesung in Österreich

Aus seinem Roman „Die Erwählten“ über die Opfer und Täter des organisierten Massenmordes an Kindern und Jugendlichen in der damaligen öffentlichen Anstalt las Steve Sem-Sandberg bei der zweisprachigen (und wohl einzigen) Lesung in Österreich aus diesem Werk in seiner Muttersprache.

Die Anstaltsbediensteten, zugleich Täter wie Heinrich Gross, seit Februar 1939 eingeschriebenes NSDAP-Mitglied und ab November 1940 federführender Mediziner "Am Spiegelgrund“, die Oberkrankenschwester Anna Katschenka, Dr. Jekelius, Dr. Illing, Dr. Türk, Dr. Hübsch und andere tragen im Roman von Steve Sem-Sandberg ihre wahren Namen. Die Qualen des Wieners Friedrich Zawrel, der als Kind mehrere Jahre in der Euthanasieanstalt verbringen musste, erlebt im Roman der Junge Adrian Ziegler.

Steve Sem-Sandberg in der Alten Schmiede in Wien

y. strujic | ORF

„Er ist ich"
Es sei wichtig, so der Autor Sem-Sandberg, eine bestimmte Distanz zu haben, um eine Geschichte zu schreiben, fügt jedoch hinzu: "Um absolut ehrlich mit euch zu sein: Die Geschichte über Adrian Ziegler ist eine Geschichte über mich. In diesem Fall ist es unbedeutend, dass Adrian Ziegler Österreicher ist und ich Schwede. Er ist ich.“

Die Geschichte Zawrels in jedem von uns

Man spreche oft über das Glück der Überlebenden von Auschwitz, betont der Autor, oder der vom Spiegelgrund. Aber niemand spricht von den Narben, die bleiben. Diese seien es, für die sich die Gesellschaft schäme, sie möchte diese Menschen in erster Linie in der Normalität sehen. Für sie gebe es jedoch keine Normalität, in die sie zurückkehren könnten. Sie seien wie wie Zirkustiere behandelt worden, die sich zu benehmen hatten. Wie könne man von ihnen verlangen, funktionierende Kräfte in einer Gesellschaft zu werden? Zawrel habe den Weg zurück dennoch geschafft, ohne jegliche Hilfe der Gesellschaft. Und das sei das Wesentliche. „Die Geschichte von Friedrich Zawrel ist keine Sache, die sich zwischen 1938-45 abgespielt hat, sondern sie steckt in jedem von uns“, unterstreicht Sem-Sandberg und ergänzt:

„Ich hätte ihm gerne eine Kopie des Buches gegeben. Er war mit all seiner Energie damit beschäftigt, an Schulen zu gehen und Führungen auf dem Spiegelgrund zu unternehmen, um über sein Schicksal zu erzählen. Ich denke, das ist sehr hart für die Opfer. Er war ein Bub im Alter von 9 Jahren, als er in diese Art von Klinik kam und die er mit 15 erst wieder verließ. Das ist die Zeit, in der man sich erstmals mit moralischen Vorstellungen und der eigenen Identität auseinandersetzt. Und ihm wurde diese Zeit gestohlen".

Sem-Sandberg | Nicht zu schreiben wäre „Betrug an der Literatur“

Sieben Jahre waren es, die der Autor Steve Sem-Sandberg auf den Spuren der Geschehnisse, deren noch heute über den Steinhofgründen liegen, forschend und schreibend in Wien verbrachte. Es wäre ein „Betrug an der Literatur“, so der Autor, über diese Geschehnisse Bescheid zu wissen, aber nicht zu darüber schreiben.

„Das Beschämenswerteste, das die Literatur oft tut ist, wenn es zu den wirklich kritischen Teilen kommt, wegzusehen, um den Leser nicht von seinem komfortablen Leben loszureißen. Wenn es zu den wirklich unbequemen Dingen kommt, kann die Literatur sehr nahe kommen, bleibt aber oft nicht auf diesem Weg. Eines der ersten Dokumente, das ich in den Händen hielt, als ich dieses Buch angefangen habe zu schreiben, war Waltraud Häupls Dokumentation über die Krankengeschichten der Kinder auf dem Spiegelgrund. Es wurde als Totenbuch gemacht. Dort wird von allen Kindern von A-Z die Anamnese, die Geschichte ihrer „Krankheiten“ geschildert. So zum Beispiel wurde am 6. Juni ein Mädchen eingeliefert, im Krankenblatt wird sie als gesund beschrieben. Zwei Wochen später stirbt sie plötzlich an einer Lungenentzündung. Warum?

Seite für Seite werden solche Fälle dort geschildert. Mit kleinen Fotos der Kinder. Man kann sehen, dass einige Kinder in die Kamera lächeln, wie das Kinder mal so tun, nicht wahr!? Und das war für mich wirklich die Hauptinspiration. Beim Verfassen von Literatur, kann man zu dem Fakt beitragen, dass es sich lohnt. Aber wenn du ihre Gesichter scheust und diesen Kindern nicht in die Augen schauen kannst. Wenn du glaubst, du kannst die Konturen rund um die Fakten zeichnen, dass ein gesundes Kind am 6. Juni eingeliefert worden ist und zwei Wochen später an einer Lungenentzündung stirbt. Natürlich war es schwer, aber es wäre noch schwerer, diesen Kindern nicht in die Augen zu blicken“, erzählt der preisgekrönte Schreiber.

Zeitzeuge Zawrel | „Meine liebe Republik“

Der Zeitzeuge Friedrich Zawrel verstarb im Frühjahr 2015, kurz vor der Fertigstellung des Romans über sein Schicksal. Zawrel selbst erzählte das Grauen der Euthanasieanstalt von 1942 bis 1944 außer stetig an Schulen, auch in der Kinodokumentation „Meine liebe Republik“.

Es sind die ineinander verschlungenen Gassen Wiens, in denen einst Kinder spielten, deren frühe Jahre am Spiegelgrund gestohlen worden sind. Steve Sem Sandberg hat diese Gassen nun zu seinem neuen zu Hause gemacht. Einer Wiege, deren Hoffnung, in den 789 in Blumen eingebetteten Lichtsäulen, jeden Abend aufs neue über dem heutigen Spiegelgrund aufgeht.

Spiegelgrund- Denkmal | Steinhofgründe

meinbezirk.at

Der 525 Seiten Band Steve Sem Sandbergs „Die Erwählten“ ist im Klett Cotta Verlag erschienen, kostet 26,95 EUR, gebunden mit Schutzumschlag | ISBN: 978-3-608-93987-3

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Klett-Cotta Verlag

Slowakische Fassung des Textes

Sem-Sandberg | Nepísať by bol „literárny podvod“