Roma in Lunik IX. | Leben ohne vis-à-vis
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Rádio Špongia
9.9.2013 | 21:40
Radio Burgenland 94.7 MHz und 96,2 MHz
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Ein Fußballplatz erstreckt sich am Rande der Siedlung Lunik IX., parallel zu einer Schnellstrasse. Kinder spielen keine dort, dazu ist das Gras und das Unkraut zu hoch, sodass die Tore kaum noch zu erkennen sind. Sie ziehen es vor, selbsterbaute Tore vor ihren Wohnhäusern aufzustellen, oder die Hügel mit Plastiktragetaschen hinunterzurutschen. Nicht nur für die Kinder sind die Gassen zwischen den Wohnhäusern der beliebteste Aufenthaltsort. Hier gilt auch für Jugendliche und Erwachsene die Improvisation als Lebensmotto.
Serdar Erdost
Randsteine dienen als Bänke, einen Mistkübel sucht man vergeblich. Um ein Stück Brot zu holen, nehmen die Familien den etwa zwei kilometer Fußmarsch täglich in Kauf. Verrostete, halblesbare Schilder an den Wandmauern erinnern an Geschäfte, die hier einst standen. Isoliert und ihrem Schicksal selbst überlassen leben in diesem Stadtteil ausschließlich Angehörige der Volksgruppe der Roma, der zwischen 1981 und 1989 erbaut wurde und für 1800 Bewohner konzipiert war.
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Die fast hundertprozentige Arbeitslosigkeit lässt die Bewohner die bleierne Luft nur schwer atmen. Dennoch begegnen sie einem Fremden äußerst freundlich und aufgeschlossen. Sobald die kommunalen Dienstleistungen, oder ihre wirtschaftliche Lage zur Sprache kommen, kippt die Stimmung. Wut dominiert ihre Gedanken. Ihnen fehlt ein vis-à-vis, eine Stimme, ein Ohr, das ihnen Gehör schenkt. Sie wissen, sie sind ständig im Gespräch, ohne selbst beim Gespräch zu sein.
Serdar Erdost
In zwei der sechsstöckigen Wohnhäuser in Lunik IX. gibt es heute noch Strom- und Wasserversorgung. Die Bewohner der restlichen Wohnhäuser erwartet vor allem im Winter ein kaltes zu Hause ohne Licht und Strom.
Den östlich gelegenen Stadtteil Košices kennt man bereits nicht nur in der Slowakei. Zumeist hört man von Lunik IX. im Zusamenhang mit wachsender Armut, Diskriminierung und Kriminalität. Zusammen mit ihrem Mann bezog Oľga Vjasová vor 6 Monaten hier ihre erste eigene Einzimmerwohnung.
Serdar Erdost
„Meinen Buben habe ich die ersten Jahre in Kanälen und Kellern gestillt. So lebte ich unter ähnlichen Umständen. Niemand kann es sich vorstellen“, erzählt Oľga, Mutter eines achtzehnjährigen Sohnes und medizinische Assistentin in ihrem Stadtteil Lunik IX. „Ich besuche Familien, deren Wohnungen kaum ein anderer betreten wollen würde, aber ich muss“, erwähnt sie. Ja, von der jüngst erbauten, sogenannten „segregierenden“ Mauer im benachbarten Stadtteil, deren Errichtung großes Aufsehen und zahlreiche Diskussionen in den Medien hervorrief, habe sie gehört, erwähnt Oľga beiläufig und fährt mit der Erzählung über das Elend in ihrem Stadtteil fort.
Das gesamte Interview mit Oľga Vjasová hören Sie in der aktuellen Sendung „Rádio Špongia“.
EU-Oberflächlichkeit im Namen der Grundrechte | Mauer in Košice | 20.8.2013