Michal Hvorecký | Meine neue Slowakei nach 1989

„Ich denke, ein großes Problem Osteuropas, aber auch der Slowakei als Land ist, dass sich eine Super-Konsumgesellschaft entwickelt hat, eine Gesellschaft enormen Verbrauchs, aber keine offene-, keine Bürgergesellschaft“, betont der slowakische Schriftsteller Michal Hvorecký in der aktuellen Volksgruppensendung Radio Dia:tón.

On demand | Rádio Dia:tón | 29.2.2016

Dieses Element ist nicht mehr verfügbar

Michal Hvorecky

ORF

Der slowakische Schriftsteller Michal Hvorecký brachte jüngst einen Querschnitt seiner Einschätzungen seines jungen Staates mit zur Diskussion im Tschechischen Zentrum Wien, „Wendezeit 1989 | Was war und was wurde daraus?“. Er spricht mit Leidenschaft über das persönlich Einzigartige in der Geschichte seines kleinen, aber dynamischen Landes, wie er es bezeichnet:

Rádio Dia:tón
29.2.2016 um 21:40 Uhr
Radio Burgenland | Livestream

„Ich mache oft darauf aufmerksam, wie die Slowakische Gesellschaft die Trennung Westen und Ostern durchlebt. Wohin gehören wir, wer sind wir?“ | Michal Hvorecký

„Ich denke, ein großes Problem Osteuropas, aber auch der Slowakei als Land ist, das sich eine Super-Konsumgesellschaft entwickelt hat, eine Gesellschaft enormen Verbrauchs, aber keine offene-, keine Bürgergesellschaft, oder nur eine sehr schwache und wie wir sehen, eine sehr leicht zu gefährdende. Wir dachten, dass wenn neoliberale Reformen der Wirtschaft angenommen werden, wenn die Wirtschaft privatisiert wird und ihre Eigentumsstruktur ändert, kommt es automatisch auch zu einer tieferen Wahrnehmung der Demokratie. Es hat sich gezeigt, dass es sich überhaupt nicht bewahrheitet hat. Das Experiment mit Osteuropa wird jetzt neu definiert, was war schlecht, was gut“, greift der Autor Hvorecký die aktuellen Fragestellungen bezüglich der Entwicklungen der von der Wende wohl am intensivsten betroffenen Länder, wie der Slowakei auf.

Supermarktlichter statt bourdeaux-gelbe Straßenlaternen

An den Straßenränden Bratislavas, an denen einst die einheitlich bourdeaux-gelben Straßenlaternen als einzige den Weg leuchteten, stehen heute internationale Kaufhaus- und Supermarktketten. Die anfängliche Begeisterung darüber, deren gefüllten Regale zu erleben, dominiere wohl immer noch beiden Menschen, schätzt Hvorecký. „Die Identität der Menschen hat sich sehr verändert. Vor meinen Augen spielt sich ein viertel Jahrhundert ab, in dem sich die Grundeinstellung völlig geändert hat. Die Gesellschaft hat andere Werte als noch vor 25 Jahren. Die Menschen haben das Gefühl, immer mehr und mehr verbrauchen zu müssen. Sie nehmen es nicht kritisch wahr, wie viel Abfall sie z.B. verbrauchen. Umweltthemen existieren in der öffentlichen Diskussion in der Slowakei praktisch nicht. Im Vergleich zu Österreich ist die Wahrnehmung der Umwelt eines der großen Themen im politischen Diskurs. Die Umsetzung dessen ist zum Beispiel bei uns überhaupt nicht gelungen.“

Bratislava Strassenrand

yvonne strujic | ORF

Slowakei vor den Wahlen von zahlreichen Streiks gekennzeichnet

Die letzten Monate in der Slowakei, die kurz vor den Nationalratswahlen steht, waren von zahlreichen Streiks gekennzeichnet. Die Bevölkerung, die sich bis dahin in der Öffentlichkeit wenig kritisch zeigte, hat es geschafft, nun aufzuzeigen, wo die Engpässe liegen, betont der Autor. „Plötzlich melden sich protestierende Krankenschwestern, viele Lehrer streiken, im Moment sind 300 Schulen in der Slowakei geschlossen. In der Slowakei leben nämlich viele Lehrer so, dass sie in Österreich an der Armutsgrenze leben würden. Sie leben am Existenzminimum und das ist für ein kleines, aber dynamisches Land sehr gefährlich, wenn das Gesundheits- und Schulwesen zusammenfallen. In dieser Hinsicht hat es nicht geklappt, eine Verbesserung zu erzielen“.

Hvorecký | Slowakei produziere die höchste Zahl von ökonomischen Migranten, für schutzsuchende Migranten fehle jedoch Verständnis

Paradox sei es laut Hovrecký, dass gerade die Flüchtlingskrise dazu beigetragen hat, dass die Menschen Europa nur einseitig, für ihren Vorteil, wahrnehmen. Gegen die sogenannte Quotenregelung entstand auch in der Slowakei ein großer Widerstand. „Das ist nicht unsere Welt, das betrifft uns in keinster Weise, wir haben das nicht verursacht“. So stelle sich die Slowakei als Opfer des Systems, der Geschichte, der Situation dar. „Und wieder leiden wir nur“ sei das slowakische Spiel, dennoch übermanne den Autor das Gefühl, dass die Menschen in der Slowakei die offenen Grenzen nur für sich selbst in Anspruch nehmen wollen, um außerhalb ihres Landes Arbeit zu finden. „Wir haben eine viertel Million Slowaken, die wegen Arbeit ins Ausland gezogen ist. Die Slowakei produziert die höchste Zahl von ökonomischen Migranten in ganz Europa. Wir haben die höchste Anzahl an Menschen, die die Slowakei verlassen, junge Menschen im arbeitsfähigen Alter. Letzten Endes ist Österreich voll von slowakischen Pflegerinnen.“

Diskussion im Tschechischen Zentrum Wien |"Wendezeit 1989. Was war und was wurde daraus?"

ORF

Michal Hvorecký diskuttiert im Tschechischen Zentrum

Protestierende Krankenschwestern, streikende Lehrer. Die Slowakei vor den Nationalratswahlen 2016. Das Land scheint sich von einer langen „Gelähmtheit“ langsam, aber voller Energie, wieder zu lösen. Heute wird im Land, einst Träger der Hoffnung, vom Prager Frühling verkörpert, der Ruf nach Freiheit wieder laut. Ein Ruf, der nun aber in der Slowakei vielleicht anders klingt, stets nach dem gleichen verlangt: nach mehr Demokratie und nach mehr Gerechtigkeit.

Links

Michal Hvorecký
Michal Hvorecký | Wordpress | deutsche Seite
Klett-Cotta Verlag | Michal Hvorecký