EU-Oberflächlichkeit im Namen der Grundrechte | Mauer in Košice

Das sogennante Bauwerk als Mauer, das als Zeichen der Ausgrenzung betrachtet wird und von dem die EU-Kommissarin für Bildung und Kultur Androulla Vassiliou spricht, das vertoße gegen Grundrechte der EU, ist etwa 35 Meter (20x15) lang. Eine Reportage durch das Leben der Roma in Lunik IX.

Mauer Kosice Lunik IX

Serdar Erdost

Die Mauer | Lunik VIII. in Košice. Im Hintergrund die Roma-Siedlung Lunik IX.

Selbstverständlich sollte es nicht auf die bloße Dimension ankommen, würde es sich um die Menschenwürde handeln. Die Erklärungen der EU-Kommissarin und die Berichte über die Mauer in Košice erzeugen jedoch ein verzerrtes Bild, als ob durch die Mauer zwei benachbarte Wohnviertel voneinenander getrennt worden wären, so dass die Roma keinen Zutritt mehr ins andere hätten.

Viel mehr geht es um Menschen in den zwei Siedlungseinheiten Lunik VIII. und Lunik IX., die etwa zwei Kilometer voneinender entfernt liegen. In Lunik IX. am Waldrand, die die Schnellstraße 50 zum Nord-Westen Richtung Spišská Nová Ves von den Bauten in Lunik VIII. am gegenüber liegenden Hügel, nahe zum Stadtzentrum Košice, trennt, leben ausschlieslich Roma-Familien in unvorstellbarer Armut.

Lunik VIII Mauerkarte

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Lunik IX und Petzvalova Nr. 61 und 59 in Lunik VIII.

Die Roma, sehr oft mit Kindern unterwegs, müssen in eine Richtung etwa 2-3 km. Fußmarsch absolvieren, um ihre täglichen Not-Einkäufe - für mehr reicht vorne und hinten kein Geld - in den Supermärkten zu tätigen oder die Anbindungen für die öffentlichen Verkehrsmittel zu erreichen. Diese Einkaufsmärkte oder Haltestellen befinden sich eben auf der neben der Lunik VIII. verlaufenden Hauptstraße Popradská, bzw. an der Verkehrsader bei Lunik VIII.

Die Roma haben bis jetzt einen Pfad, der erst nach der Überquerung der Schnellstraße beginnt, durch die Böschung als Abkürzung genützt. Dieser schmale Pfad neben der leicht ansteigenden Straße führte sie zu einem kleinen Autoparkplatz zwischen zwei Häuserblocks, Petzvalova Nr. 61 und 59, in Lunik VIII. Durch diesen Abstellplatz, in einer Länge von 15 Metern und in der anderen 10 Meter, gelangen sie in die Gasse, die sie dann zu den Einkaufsmärkten durch einen Teil der Siedlung führte. Dieser ständige Marsch durch den Autoparkplatz störte die Anrainer dieser Gasse und sie versperrten den Durchgang mit einer Mauer, die aus Betonplatten, die aufeinander gesteckt werden, besteht.

Mauer Kosice

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Mauer in Lunik VIII.

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Die Mauer zwischen zwei Häuserblocks Nr. 61 und 59 in der Petzvalova

Diese leichte Abkürzung steht den Roma nicht mehr zur Verfügung, nun müssen sie 20 Meter mehr zu Fuß bis zur nächsten Ecke des Häuserblocks gehen, benützen weiterhin die anderen Gassen der Bauten von Lunik VIII.

Mauer Rom Kosice

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Es ist vielleicht seitens der Anrainer der betroffenen Gasse nicht solidarisch und mitfühlend, aber die Mauer, die hier aufgestellt wurde, lässt sich keineswegs mit den anderen im Osten der Slowakei vergleichen, was den Zweck und die Dimension anbelangt.

Die Roma tragen die Armut mit sich und die Armut segregiert

Die EU-Kommissarin Androulla Vassiliou lässt in ihrer Aussendung das stets vor dieser Mauer existierende Bild der Roma mit ihren elementaren Bedürfnissen zur Gänze vermissen. Die Roma würden gerne die Zuneigung und Akzeptanz der weit gelegenen Nachbarn in Lunik VIII. verspüren, das würde jedoch allein ihre derzeitigen fundamentalen Forderungen an ein „menschenwürdiges“ Leben nicht stillen.

Olinka Lunik IX

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Olinka, Yvonne Strujić, Sozialarbeiterin der Kommune, Jennifer

Olinka (34) lebt seit 16 Jahren in der Lunik IX., ihr Sohn kam zwei Jahre, bevor sie in die Siedlung wechselte, auf die Welt. Sie stillte ihn 8 Monate lang in einem Kellerraum ohne Tageslicht, oder unter einer Brücke, wie sie erzählt. Olinka führt zu ihrer Wohnung im vierten Stockwerk in einem Gebäude, das an einen Kriegsschauplatz in Groznyy erinnert oder an die zerbombten Häuser in Sarajevo. Im Stiegenhaus haben die Fenster vereinzelt Gläser, der Verputz an den Wänden verfällt, an den Treppen vermischt sich der Geruch der Armut und schlechtes Speiseöl. 16 Jahre wartete Olinka auf diese Wohnung, auf eine eigene Sozialwohnung. Als sie mit ihrer Familie hierher einzog, fehlten der Boden und die Fenster, es gab keine Strom- und Wasserversorgung. Mit dem Strom ist ja so eine Sache. Viele BewohnerInnen der Siedlung können die Stromrechnungen nicht zahlen, so dass die Gemeinde ihn abdreht.

Olinka hat unzählige leere Plastikflaschen im Vorzimmer, schön geschlichtet in Taschen. Wenn das Wasser kommt, dann müssen sie in 45 Minuten alle Flaschen voll kriegen. Länger fließt es nicht am Tag. Die Familie füllt es in Behälter, stellt es auf den Balkon, um Warmwasser zum Waschen zu speichern. In den Sommermonaten ist das gut möglich. Hinter einem Vorhang im Durchgangsraum zur Küche, der auch als Badezimmer dient, zeigt Olinka in zwei Liter-Plastikflaschen gefüllte Wasservorräte zum Kochen und Putzen. Ein Zimmer und eine Küche vervollständigen die etwa 30 qm Wohnung.

Kosice Lunik IX

Archiv

Lunik IX., erbaut 1981 bis 1989, gedacht für 1800 BewohnerInnen. Derzeit leben dort 8300 Personen.

Im Winter ziehen sie sich zu Hause gegen die Kälte warm an, erzählt sie. Es gibt hier keine Heizung. „Andere Bewohner, die sich leisten können, benutzen einen Holzofen, doch mein Mann und ich sind kränklich, haben Asthma. Ich schlafe mit allem, was ich habe. 2 Jacken, 3 Pullover, Schal und Haube“, erzählt Olinka.

Man kann sich hier dem Gedanken nicht verwehren. Kann man wirklich hier von einer Wohnung sprechen, oder hier von einer träumen? Die Gebäude vermitteln ein Gefühl, dass sie nur aus Fassaden bestehen, innen wären sie hohl.

Lunik IX Gasse

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Das Recht auf die Privatsphäre, das den unverzichtbaren Grundstein der bürgerlichen Zivilisation darstellt, ist hier längst nicht mehr gewährleistet. Der Mensch als Individuum, den die Grundrechte als Definition in den Mittelpunkt stellt, hat hier keine Gültigkeit. Auf den Balkons oder an den Außengängen bilden junge Menschen und Kinder das Publikum, das unten in den Gassen das Stück über das echte Leben ohne Laien verfolgt. Hier kann sich niemand verstecken.

Olinka sperrt die Eisengitter zwischen dem Stiegenhaus und ihrer Wohnungstür auf. Eine Sicherheitsmaßnahme, sagt sie. Auch hier besitzt einer/eine mehr als der oder die andere. „Wenn eine Familie 12 Kinder hat, die nichts zu essen haben, kommen sie dorthin, wo es etwas zu Essen gibt. Ich verstehe, dass sie dann auch stehlen müssen, damit ihre Kinder nicht verhungern.“

Sie bezieht 70 Euro Sozialhilfe und mit Nebenverdiensten kommt sie auf 125 Euro im Monat, sagt sie. Damit müssen sie auskommen.

Lunik IX Fenster

Archiv

Die BewohnerInnen von Lunik IX. sind auch im Zentrum der Kulturhauptstadt Europa anzutreffen. Sowohl die Nicht-Roma als auch die Roma selbst vermitteln das Gefühl, dass sie miteinander nichts zu tun haben können. Die Roma tragen mit sich eine unsichtbare Mauer, die sich in Ablehnung und Verachtung seitens der „weißen“ Stadtbevölkerung manifestieren. Diese Mauer lässt sich nicht so leicht abreißen, wie die Absperrung am Autoparkplatz.

Wer die Siedlung Lunik IX. und ihre BewohnerInnen einmal besucht, muss lernen, mit den Bildern der Armut, der Isolation zu leben. Die stetige Abgrenzung ist ihr Alltag dort. Die Mauer, über die man sich leicht aufregen kann, spielt im Olinkas Leben eine untergeordnete Rolle. Die Mauer! Ja, von der habe sie gehört, zeigt sie sich resignierend.

Die 8-jährige Jennifer, die Nichte von Olinka, ist hier, in Lunik IX. glücklich, lacht sie, nach der Frage danach. Das zu verstehen ist auch die Aufgabe der EU-Kommissarin wie aller Nicht-Roma.

Serdar Erdost, Yvonne Strujić | ORF Volksgruppenredaktion Wien

EU-Kommission fordert Abriss von Anti-Roma-Mauer | 19.8.2013