Politik nimmt Sterben auf See „wissentlich in Kauf“

Laut Claus-Peter Reisch, Kapitän des Rettungsschiffes Lifeline, nimmt die Politik „das Sterben der Menschen auf See wissentlich in Kauf“.

Das jüngst gemeldete Ende der Aquarius-Mission von Ärzte Ohne Grenzen (MSF) ist für ihn „kein gutes Zeichen“. „Alles, was von der Politik gemacht wird, ist zum Nachteil dieser Menschen auf See“, sagte er am Samstag im APA-Interview in Wien.

Rettungsschiff Lifeline beim Anlagen in Valetta, auf Malta, im Juni 2018

APA/AFP/Matthew Mirabelli

Rettungseinsätze „mit aller Gewalt zu unterbinden“ versucht

Rettungseinsätze auf See, die Flüchtlingsboote finden könnten, versuche man „mit aller Gewalt zu unterbinden“, so der Kapitän, dem am Samstag der Preis zur Wahrung unter Erhaltung der Menschenrechte der Österreichischen Liga für Menschenrechte verliehen wurde. „Gott sei Dank wird die Arbeit wertgeschätzt“, freute sich Reisch. Den Preis nehme er stellvertretend für seine Crew und die vielen Helfer an. Dass mit dem Preis gerade aus Österreich, wo es „massive politische Veränderungen“ gegeben habe, diese Zeichen gesetzt würden, ist für ihn „bemerkenswert“. „Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken“, fuhr er fort.

Verfahren gegen Reisch auf Malta

Nachdem ihm von vielen Staaten die Anlandung verweigert worden war, konnte das Schiff der Dresdner NGO „Mission Lifeline“ mit 234 Flüchtlingen an Bord im Juni in Malta anlegen. Gegen Reisch läuft seitdem auf dem Inselstaat ein Verfahren wegen einer Kontroverse um die niederländische Flagge, unter der die Lifeline fuhr. Am 18. Dezember soll auf Malta der nächste Verhandlungstag stattfinden, an dem der Abschluss der Beweisaufnahme und die Plädoyers erwartet werden. „Der Richter will am 10. Januar ein Urteil verkünden“, berichtete der Kapitän, dem im schlimmsten Fall ein Jahr Haft droht.

Ankauf eines neues Schiffes dank Spenden

Dank Spenden, deren Löwenanteil von der Hip-Hop-Gruppe „Die Fantastischen Vier“ und dem Münchner Kardinal Reinhard Marx stammen, kann „Mission Lifeline“ ein neues Schiff kaufen. „Wir sehen es als unsere Pflicht, den Menschen weiter auf See zu helfen und sie vor dem Ertrinken zu bewahren“, erklärte Reisch. Der Verlust der Lifeline, die „perfekt ausgerüstet“ sei, sei dennoch spürbar. „Wir hatten 800 Rettungswesten dabei, wir konnten 250 Menschen in Rettungsinseln setzen, wir hatten ein Krankenhaus mit drei Behandlungsplätzen. Da wird jeder Notarzt mit seinem Notarztwagen blass, wenn er unsere Möglichkeiten sieht“, berichtete der Kapitän. Mit kleineren Schiffen sei man nun „deutlich beschränkter“.

Sechs Einsätze auf drei Schiffen gefahren

Seit 2016 gebe es in der Politik die „unsägliche Diskussion, ob man Menschen retten soll, oder nicht“. Reisch, der seit seinem 18. Lebensjahr auf hoher See segelt, wollte sich darum im selben Jahr ein eigenes Bild der Situation im Mittelmeer machen. Seitdem sei er sechs Einsätze auf drei Schiffen gefahren. Die NGO biete auch Politikern an, sie zu begleiten, um die Lage an Ort und Stelle zu betrachten. „Die Angebote verhallen halt leider im Nirwana, weil man dann doch nicht den Allerwertesten in der Hose hat, dass man mitfährt“, sagte der aus Oberbayern stammende Kapitän.

Mission Sophia als „wahnsinniges Geldverbrennen“

Die europäische Mission Sophia ist für Reisch „ein wahnsinniges Geldverbrennen“. „Die fahren mindestens 75 Meilen vor der Küste - wenn ich 150 Kilometer draußen im offenen Meer fahre, werde ich die Schleuser garantiert nicht erwischen“, kritisierte er. Stattdessen könnte man die finanziellen Mittel „zur Rettung der Menschen wesentlich effizienter einsetzen“.

„Man muss faire Handelsverträge schließen“

Das wahre Problem seien die Fluchtursachen „Da redet man schon seit 30 Jahren drüber, aber man hat die Ursachen nicht wirklich aktiv bekämpft“, bemerkte er. Stattdessen würden mit „Freihandelsabkommen, die man den afrikanischen Ländern aufs Auge drückt“, die Fluchtursachen noch „befeuert“. „Man muss faire Handelsverträge schließen, damit diese Länder auf die Füße kommen“, analysierte der Kapitän. Man dürfe nicht mit subventionierten Agrarprodukten die landwirtschaftlichen Märkte in Afrika kaputtmachen und sich danach drüber wundern, „dass die Leute bei uns an der Tür klingeln“. „Das ist ein Ding der Unmöglichkeit“, so Reisch. „Wenn man wirtschaftlich auf Augenhöhe ist, kann man frei handeln, aber solange es ein Gefälle gibt, und das ist mit Afrika sicherlich enorm, ist dieser freie Handel schädlich für den schwachen Partner“, fuhr er fort. „Solange das nicht aufhört, wird es Fluchtursachen geben und die Leute werden sich auf den Weg machen“, meinte er. Der Klimawandel sei ebenfalls eine Fluchtursache.

Flucht in Europa in 50er-Jahren

Flucht habe es auch innerhalb Europas gegeben. „Auf Sardinien hat es in den 50er-Jahren Hungersnöte gegeben und viele Sarden sind in die Toscana oder nach Mitteleuropa ausgewandert“, so Reisch. „Wo ist da jetzt vom Prinzip her der Unterschied, von der Hautfarbe mal abgesehen?“