„Tschechische Auslese“ | Leipziger Buchmesse

Beim Gastland-Auftritt Tschechiens auf der Leipziger Buchmesse werden an die 70 Neuerscheinungen präsentiert. Im Folgenden eine kleine Auswahl aus neuen Übersetzungen von Autorinnen und Autoren Tschechiens bzw. Büchern zum Thema.

„Tschechische Auslese“ | Schön gestaltete Kurzprosa-Reihe

Alle Titel unter www.wieser-verlag.com

Eugen Brikcius Und das Fleisch ward Wort

Wieser Verlag

Das vielleicht ambitionierteste neue Projekt zur Propagierung zeitgenössischer tschechischer Literatur ist eine Kooperation zwischen dem Klagenfurter Wieser Verlag und dem Brünner Verlag Větrné Mlýny. „Tschechische Auslese“ heißt eine Kollektion von zehn liebevoll gestalteten Bänden, die einen möglichst großen Überblick über die aktuelle Szene bieten soll.

Kurzprosa von Michal Ajvaz und Eugen Brikcius bis zu Vladimíra Valová und Michal Viewegh, zwischen realistisch und fantastisch, märchenhaft und satirisch. Einziges Manko: In den mit verspielter, moderner Grafik, prominenten Nachworten und bebilderten Autoren- und Übersetzer-Biografien großzügig ausgestatteten schmalen Bänden nimmt die eigentliche Literatur vergleichsweise wenig Raum ein.

„Ein empfindsamer Mensch“ | Reise durch eine grotesker Gegenwart

Jáchym Topol: „Ein empfindsamer Mensch“, Aus dem Tschechischen von Eva Profousová, Suhrkamp, 494 Seiten, 25,70 Euro, ISBN: 978-3-518-42864-1

Jáchym Topol, 1962 in Prag geboren, zählt zu den prominentesten tschechischen Autoren in Leipzig. Sein 2017 im Original erschienener und eben bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung herausgebrachter neuer Roman „Ein empfindsamer Mensch“ ist eine groteske Reise durch den Kontinent Europa.

Jáchym Topol

Knihovna Václava Havla

Jáchym Topol

Wie schon in seiner Nach-Wende-Road-Novel „Die Schwester“ scheint alles in Bewegung geraten, nur: Wo früher Aufbruch und Hoffnung war, wird nun alles immer kälter und abweisender. Eine tschechische Künstlerfamilie gastiert bei einem Shakespeare Festival in Großbritannien und wird von Brexit-Anhängern aus dem Land gejagt. Im Campingwagen reisen sie, gegen den Strom der Flüchtlinge, Richtung Osten, und geraten ins russisch-ukrainische Kriegsgebiet, wo sie auf Gerard Depardieu treffen. Ein „großes böhmisches Familienporträt“, das „mit unbestechlichem Blick für die zwischenmenschliche und geschichtliche Verwüstung gezeichnet“ sei, nannte dies die „F.A.Z.“

„Gerta - Das deutsche Mädchen“ | Tschechischer Tabubruch

Kateřina Tučková: „Gerta - Das deutsche Mädchen“, Aus dem Tschechischen von Iris Milde. KLAK Verlag, 548 Seiten, 20,40 Euro, ISBN 9783943767971

Gerta Das deutsche Mädchen Kateřina Tučková

Klak Verlag

Einen Tabubruch hat die 1980 in Brünn geborene Autorin und Kuratorin Kateřina Tučková begangen. In ihrem vor neun Jahren im Original erschienenen Roman „Gerta - Das deutsche Mädchen“, der in Tschechien zum Bestseller wurde, erzählt sie aus der Perspektive eines Opfers vom Brünner „Todesmarsch“, der gewaltsamen Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ihre Hauptfigur Gerta Schnirch ist Tochter einer Tschechin und eines fanatisierten Deutschen. Vom eigenen Vater vergewaltigt, bringt sie eine Tochter zur Welt, überlebt die Vertreibung und kehrt, ausgegrenzt und verachtet, in ihre Heimatstadt zurück.

„Europeana“ | Eine ziemlich andere Geschichte Europas

Patrik Ouředníks „kurze Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert“ beginnt mit sehr seltsamen Zahlen: Die bei der Invasion gefallenen US-Soldaten hätten im Durchschnitt eine Körpergröße von 1,73 Meter gehabt, die senegalesischen Schützen im Ersten Weltkrieg hätten sogar durchschnittlich 1,76 Meter gemessen.

Patrik Ouředník: „Europeana. Eine kurze Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert“, Aus dem Tschechischen von Michael Stavarič, Czernin Verlag, 144 Seiten, 20 Euro, ISBN: 978-3-7076-0662-1

„Die russischen Kommunisten berechneten später, wie viel Dünger ein Kilometer Leichen ergebe und was man an teurem ausländischem Dünger einsparen könne, sofern man zum Düngen die Leichname von Verrätern und Übeltätern nutze.“ Schon auf der ersten von nicht einmal 140 Seiten seiner „Europeana“ wird klar, dass es hier um kein Geschichtsbuch im herkömmlichen Sinne handelt. Dieser von Michael Stavarič übersetzte Parforceritt durch Hoffnungen und Traumata, Errungenschaften und Wahnsinnigkeiten des Kontinents, erschien im Original 2001. Zum Gastland-Auftritt ist die deutsche Ausgabe erneut aufgelegt worden.

Patrik Ouředník

čtk

Patrik Ouředník

„Austern in Prag“ | Erinnerungen an ein Leben in der Diktatur

Richard Swartz: „Austern in Prag. Leben nach dem Frühling“, Aus dem Schwedischen von Andrea Zederbauer, Zsolnay, 256 Seiten, 23,70 Euro, ISBN 978-3-552-05932-0

Nicht aus dem Tschechischem, sondern (von Andrea Zederbauer) aus dem Schwedischen übersetzt wurde „Austern in Prag“. Richard Swartz, 1945 in Stockholm geborener ehemaliger Osteuropa-Korrespondent des „Svenska Dagbladet“, erinnert sich in dem Buch an sein „Leben nach dem Frühling“, an die 1970er-Jahre als nach der Niederschlagung der Reformbewegung die bleierne Zeit der kommunistischen Diktatur das Leben in der tschechischen Hauptstadt bestimmte. Der junge Schwede macht Bekanntschaft mit jeder Spielart von Überlebenswillen, Arrangement und Selbsttäuschung, mit Verbitterung und Opportunismus ebenso wie mit ungebrochener Offenheit und Menschlichkeit.

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