Coverbild von Band 7/1 der Buchreihe „Erinnerungen“ zum Schwerpunkt „Exil in Neuseeland“
Nationalfonds
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Das Leben im neuseeländischen Exil

Als „Land der langen weißen Wolke“ bezeichneten die indigenen Māori Neuseeland, in dem während der NS-Herrschaft auch rund 250 Jüdinnen und Juden aus Österreich Zuflucht fanden. Eine neue zweibändige, vom Nationalfonds herausgegebene Publikation widmet sich nun dem bisher kaum beachteten Thema „Exil in Neuseeland“.

In dem mittlerweile siebten Band der Reihe „Erinnerungen – Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“ des Nationalfonds werden 20 Erzählungen von Menschen veröffentlicht, die auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in diesem von Österreich am weitesten entfernten Exilland Zuflucht gefunden haben. Die zweisprachige – deutsch-englische – Publikation bietet mit den autobiografischen und biografischen Texten vielfältige Einblicke in die Verfolgungs- und Emigrationsgeschichten der nach Neuseeland Geflüchteten und das Leben von deren Nachkommen. Von den rund 30.000 Menschen, die vom Nationalfonds als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurden, lebt der überwiegende Teil außerhalb Österreichs und etwa 20 von ihnen leben heute in Neuseeland, berichtet Hannah Lessing, die Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus.

Fotostrecke mit 9 Bildern

(vlnr.): Nachkomme aus Neuseeland Peter Sunley, Schauspielerin und Moderatorin Konstanze Breitebner, Nachkommin aus Neuseeland Annette Offenberger und Kultur- und Sozialanthropologin Margit Wolfsberger während der Buchpräsentation „Exil in Neuseeland“, Band 7 aus der Buchreihe „Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“ auf Einladung des Nationalfonds der Republik Österreich in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (24.5.2023)
Isabelle Ouvrard
Schauspielerin und Moderatorin Konstanze Breitebner anlässlich der Buchpräsentation „Exil in Neuseeland“, Band 7 aus der Buchreihe „Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“  auf Einladung des Nationalfonds der Republik Österreich in 
der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (24.5.2023)
Isabelle Ouvrard
Direktor der Sammlung Bildarchiv und Grafiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Hans Petschar, während seiner Begrüßung bei der Buchpräsentation „Exil in Neuseeland“, Band 7 aus der Buchreihe „Erinnerungen – Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“ auf Einladung des Nationalfonds der Republik Österreich in der österreichischen Nationalbibliothek in Wien (24.5.2023)
Isabelle Ouvrard
Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus Hannah Miriam Lessing während ihrer Begrüßung und einleitenden Worte bei der Buchpräsentation „Exil in Neuseeland“, Band 7 aus der Buchreihe „Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“ auf Einladung des Nationalfonds der Republik Österreich in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (24.5.2023)
Isabelle Ouvrard
Musikalische Gestalterin und Geigerin Emily Stewart während der Buchpräsentation „Exil in Neuseeland“, Band 7 aus der Buchreihe „Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“ auf Einladung des Nationalfonds der Republik Österreich in 
der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (24.5.2023)
Isabelle Ouvrard
Stellvertretende Generalsekretärin und wissenschaftliche Leiterin des Nationalfonds und Herausgeberin Renate S. Meissner während der Buchpräsentation „Exil in Neuseeland“, Band 7 aus der Buchreihe „Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“ auf Einladung des Nationalfonds der Republik Österreich in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (24.5.2023)
Isabelle Ouvrard
Schauspielerin und Moderatorin Konstanze Breitebner und Kultur- und Sozialanthropologin Margit Wolfsberger während der Buchpräsentation -„Exil in Neuseeland“, Band 7 aus der Buchreihe „Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“ auf Einladung des Nationalfonds der Republik Österreich in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (24.5.2023)
Isabelle Ouvrard
Nachkomme aus Neuseeland Peter Sunley während der Buchpräsentation „Exil in Neuseeland“, Band 7 aus der Buchreihe „Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“ auf Einladung des Nationalfonds der Republik Österreich in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (24.5.2023)
Isabelle Ouvrard
Schauspielerin und Moderatorin Konstanze Breitebner und Nachkommin aus Neuseeland Annette Offenberger während der Buchpräsentation „Exil in Neuseeland“, Band 7 aus der Buchreihe „Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“ auf Einladung des Nationalfonds der Republik Österreich in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (24.5.2023)
Isabelle Ouvrard

Präsentation der Publikation

Mittwochabend wurde die Publikation „Exil in Neuseeland“ in der Österreichischen Nationalbibliothek in Anwesenheit von Nachkommen von nach Neuseeland geflüchtet NS-Opfer vorgestellt. Annette Offenberger, die Tochter von Hans Offenberger, dessen Lebensgeschichte im Buch veröffentlicht ist, ist aus Neuseeland angereist. Zu Gast war auch Peter Sunley, der in Neuseeland geboren wurde und mit seiner Familie in den 1950er-Jahren wieder nach Österreich zurückgekommen ist. Peter Sunley war früher Honorargeneralkonsul von Neuseeland in Österreich. Auch die Lebensgeschichte seines Vaters Henry Sunley wird im Buch festgehalten.

Band 7 der Buchreihe „Erinnerungen“ zum Schwerpunkt „Exil in Neuseeland“
Nationalfonds

„Exil in Neuseeland“, Band 7 der Reihe „Erinnerungen – Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“; Renate S. Meissner im Auftrag des Nationalfonds (Hg.), Wien 2022, 596 Seiten, 2 Bände (deutsch/englisch). ISBN 978-3-9504794-4-7

Zieldestination oder zufälliges Exil

Neuseeland als Zieldestination der Emigration wurde von einigen Jüdinnen und Juden ganz bewusst ausgewählt. So wollte etwa der Auschwitz-Überlebende Kurt Fuchs so weit wie möglich von seiner ursprünglichen Heimat weg, wie die wissenschaftliche Leiterin des Nationalfonds und Herausgeberin Renate S. Meissner in der Publikation berichtet. "Neuseeland und Australien sind beides sichere Orte, wo es sich leben lässt und ich fühlte mich wie neu geboren in diesem Teil der Welt“, heißt es in Fuchs’ lebensgeschichtlicher Niederschrift. Für den Großteil der Geflüchteten, die in einem anderen Land Zuflucht suchten, war es jedoch Zufall, in Neuseeland eine neue Existenz aufbauen zu können. Das damalige Wissen über Neuseeland sei in Österreich recht spärlich gewesen und die Schiffsfahrt von Europa dauerte mehrere Wochen, wie die Kultur- und Sozialanthropologin sowie ehemalige Präsidentin der Österreichisch-Südpazifischen Gesellschaft Margit Wolfsberger in ihrem Beitrag „Jüdische Migration nach Neuseeland“ berichtet.

Nach dem Krieg hätten wir die Möglichkeit gehabt, unsere Wirtschaft in der Wachau wieder in Besitz zu nehmen. Wir verzichteten aber darauf, da wir aus eigener Erfahrung wussten, was es bedeutet, von der Heimat verdrängt zu werden, und wollten deshalb nicht der Anlass zu einem ähnlichen Unrecht sein.

Franz Hoffmann

Das Leben von Carl, Franz und Paul Hoffmann

In dem Band werden u.a. die Lebensgeschichten der Brüder Carl, Franz und Paul Hoffmann erzählt, die ihr Wachauer Weingut zurücklassen mussten und in Neuseeland jeder für sich eine neue Existenz aufbauen konnten. Franz Hoffmann konnte bereits 1938 mit einer abgeschlossenen Ausbildung in Wein­, Obst­ und Gartenbau in Neuseeland einen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb aufbauen. Carl Hoffmann, der sich einer studentischen Untergrundbewegung angeschlossen hatte, wurde als 16-Jähriger wegen Hochverrats verhaftet. Er konnte 1939 gemeinsam mit seinen Eltern und seinem Bruder Paul nach Neuseeland flüchten, wo sich die Familie mit Franz Hoffmann wieder vereinte. Paul Hoffmann konnte sein in Wien begonnenes Studium der Germanistik und Geschichte erst wieder in Neuseeland fortsetzen und wurde Universitätsprofessor für deutsche Literatur. Carl Hoffmann wurde Lehrer nach Rudolf Steiner. Nach dem Krieg verzichtete die Familie auf eine Rückstellung der Landwirtschaft in der Wachau, da sie der Käuferfamilie ein ähnliches Schicksal wie dem ihren ersparen wollten. Der Verlust der Heimat blieb bei ihnen bis ins hohe Alter präsent, wie Lessing aufgrund der Korrespondenz mit ihnen zu berichten weiß.

„Enemy aliens“

Die publizierten Erinnerungen geben individuelle Einblicke in die Geschehnisse in der alten Heimat, von den Möglichkeiten der Flucht, den unterschiedlichen Fluchtrouten und Zwischenstationen und schließlich vom Aufbau einer Existenz und dem Leben in der neuen Heimat. So galten etwa deutsche und österreichische Staatsangehörige, die nach Neuseeland flüchteten, nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges als „enemy aliens“ („feindliche Ausländer“) und unterlagen bestimmten Einschränkungen, wie etwa einer regelmäßigen polizeilichen Meldepflicht. In der Hauptstadt Wellington wurde 1941 ein erstes Internierungslager errichtet, in dem viele Geflüchtete eine Zeit lang festgehalten wurden. Berichtet wird von Vorbehalten gegenüber Flüchtlingen, da die Bevölkerung oft zwischen Nationalsozialisten und den Vertriebenen nicht unterscheiden konnte, so Wolfsberger. Auch antisemitische Einstellungen seien in der Gesellschaft zu dieser Zeit verbreitet gewesen. Eine besondere Rolle nahmen die indigenen Māori ein, da sie den verfolgten jüdischen Eingewanderten ihre Hilfestellung zuteilwerden lassen wollten. Laut Berichten reiste eine Gruppe von Māori nach Wellington, um der Regierung Stammesland für jüdische Flüchtlinge anzubieten. Dies wurde jedoch abgelehnt, und sie wurden aufgefordert, „zu ihren Hütten zurückzukehren“.

[Es war schwer], im Jahr 1940 als elfjähriges Mädchen in ein fremdes Land zu kommen, über das ich nichts wusste. Ich hatte nur zwei meiner Lieblingsbücher und meine Kleider mitbringen dürfen.

Ruth Frances Newlove

Fremdes Land und soziale Eingliederung

Immer wieder ist in den Berichten die fremde Kultur und Sprache Thema und damit verbunden das Problem der sozialen Eingliederung. Laut Meissner sei die neuseeländische Gesellschaft sehr geschlossen und Migrantinnen und Migranten gegenüber eher reserviert gewesen. Folglich blieben viele Geflüchtete unter sich. Manche fanden dann auch Unterstützung bei der jüdischen Gemeinde, obwohl diese eher verschwindend klein war. 1936 lebten laut Wolfsberger nur 2.500 jüdische Menschen in Neuseeland, bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 1,5 Millionen. So berichtet Ruth Frances Newlove wie sie sich als Fremde gefühlt und das Leben im neuen Land als „totalen Kulturschock“ erlebt hat. Nicht nur, dass das Essen, die Kleidung und die Leute für sie anders waren, im Gymnasium war sie die einzige jüdische Schülerin.

Aus der Stadt in die Stadt

Laut Wolfsberger kamen die meisten österreichisch-jüdischen Migrantinnen und Migranten aus den Städten Wien, Graz und Salzburg und sie ließen sich auch in Neuseeland wieder in den urbanen Zentren nieder, in Auckland, Wellington, Christchurch und Dunedin. Unter ihnen war am häufigsten Ärztinnen und Ärzte, Architekten, Ingenieure und Fabrikanten, aber auch Personen aus den Bereich Kunst und Wissenschaft. Für manche Berufsgruppen gab es in Neuseeland Ausübungsverbote, weil die österreichische Ausbildungen nicht anerkannt wurden. Davon waren vor allem Ärztinnen und Ärzte betroffen.

[…] wir begannen unser Leben in Neuseeland. Ich war 19 Jahre alt, ohne Familie in der Nähe. Ich nahm die Herausforderung an, mich an ein neues Leben in einem fremden Land zu gewöhnen, mich auf mein Universitätsstudium zu konzentrieren und eine neue Kultur kennenzulernen.

Hans Offenberger

Heimatlosigkeit und Sehnsucht

Das Gefühl der Sehnsucht nach der alten Heimat und der Heimatlosigkeit sind bei den Geflüchteten ein großes emotionales Thema, welche sie ihr ganzes Leben begleiten. Die Kinder hingegen, die bereits in Neuseeland geboren wurden, beschäftigt oft die Sehnsucht nach der unbekannten Heimat ihrer Eltern und der Traum die elterliche Geburtsstadt einmal kennenlernen zu können. So berichten die Kinder von Hans Offenberger, die in einer österreichisch-neuseeländischen Familie aufgewachsen sind und dies als bereichernd empfanden, davon, sich lange nicht zur Gesellschaft Neuseelands zugehörig gefühlt zu haben: „Es hatte den Anschein, dass unsere Wertesysteme andere waren als die der Menschen in unserer Umgebung.“

Erinnerungen weitergeben

Wie der Titel der Buchreihe schon festhält, soll die Erinnerung an jene Menschen, denen großes Unrecht geschehen ist, und ihre Lebensgeschichten wachgehalten werden. „Diese leuchtenden Jahre der Vergangenheit können wir zwar nicht zurückbringen, aber in unserer Erinnerung bewahren. Der vorliegende Band ist ein solches Stück Erinnerung, das weitergegeben wird", so Nationalfonds-Generalsekretärin Lessing.

Erzählt werden die Lebensgeschichten von: Kurt Hager, Vera O’Brien, Carl J. Hoffmann, Franz Hoffmann, Paul Hoffmann, Hanna Eva Fish, Hans Offenberger, Ruth Frances Newlove, Peter Fleischl, Peter Ernst Georg Viktor von Klarwill, Evelyn Harold Fraser, Renée H., Henry K., Lilly und Fred Bruell, Henry Sunley, Fritz Herbert Pollak, Elizabeth Bondy, Ludwig R.