Mariella Mahr wurde 1947 in Zürich als Angehörige der Minderheit der Jenischen geboren und wurde selbst zum Opfer des „Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse“, bei dem Kinder von ihren Eltern zwangsweise getrennt wurden. Bis ins Jahr 1972 waren rund 600 Kinder jenische und Roma-Familien davon betroffen. Mariella Mehr wuchs in Kinderheimen, Erziehungsanstalten und Pflegefamilien auf.
Gewalt als zentrales Thema
In ihren Texten setzt sie sich mit der Gewalt in all ihren Ausprägungen auseinander. So auch in ihrem ersten 1981 erschienen Roman „Steinzeit“, in dem sie von ihrer leidvollen Kindheit erzählt. Es folgen Romane und Gedichte, für die sie zahlreiche Auszeichnungen erhält, unter anderem den Bündner Literaturpreis und den Anna-Göldi-Menschenrechtspreis. Ihr literarisches Lebenswerk wurde 2012 mit dem Pro-Litteris-Preis und erneut im Jahr 2017 mit dem Anerkennungspreis der Stadt Zürich gewürdigt. Im selben Jahr, zu ihrem 70. Geburtstag wurde Mariella Mehrs Hauptwerk, die vergriffene sogenannte Trilogie der Gewalt – „Daskind“, „Brandzauber“ und „Angeklagt“ beim Limmat Verlag neu aufgelegt. Darin verhandelt sie die „existenzielle Dimension der Gewalt“.
„Von Wissenschaft, Gutachtern und ihren Akten“
Zuletzt erschienen im selben Zürcher Verlag unter dem Titel „Widerworte“ zum Teil unveröffentlichte literarische und journalistische Texte. „Die Autorin wird in all ihren Facetten sichtbar: als streitbare Publizistin ebenso wie als sensible Literatin mit einem feinen Gespür für sprachliche Zwischentöne“, betont der Verlag. Dieser kündigt für Oktober die Erscheinung des Buches „Von Mäusen und Menschen: Von Wissenschaft, Gutachtern und ihren Akten“ an. Veröffentlicht wird Mehrs Rede anlässlich der Ehrendoktorwürde der Universität Basel im Jahr 1998. „Vor Ihnen steht eine ‚verstimmbare, haltlose, geltungsbedürftige und moralisch schwachsinnige Psychopathin mit neurotischen Zügen und einem starken Hang zur Selbstüberschätzung, was ihr Wunsch, Schriftstellerin zu werden, beweist‘“, so begann ihre Rede, in der sie aus ihrer „Kinder der Landstrasse“-Akte zitierte und die Mitschuld der Wissenschaft anprangerte.
„Einzigartige Radikalität“
Am 5. September ist Mariella Mehr gestorben. „Sie wird als streitbare Publizistin und sensible Literatin mit einer für die Schweizer Literatur einzigartigen Radikalität in Erinnerung bleiben“, würdigte der Limmat Verlag die Schriftstellerin.