Migrationsexpertin Melita Šunjić
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Flucht & Migration

Šunjić fordert rasches, europäisches Asylverfahren

Die Migrationsexpertin Melita H. Šunjić fordert ein rasches und einheitliches europäisches Asylverfahren. Die langwierigen Prozeduren, bei denen Geflüchtete und auch nicht Asylberechtigte jahrelang unter unmenschlichen Bedingungen untätig in Europa in Aufnahmezentren säßen, „zerstört Menschen“.

Und sie kosten den EU-Ländern viel Zeit und Geld, sagte Šunjić gestern vor Journalistinnen und Journalisten. Außerdem sprach sie sich für mehr Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern aus. Statt 27 verschiedener Asylverfahren in den einzelnen EU-Ländern plädierte die Expertin und langjährige UNHCR-Mitarbeiterin in einem vom Presseclub Concordia und dem forum journalismus und medien wien (fjum) veranstalteten Online-Gespräch für ein einheitliches Vorgehen unterstützt durch die EU-Asylbehörde. Die Asylverfahren sollten laut Šunjić an den Grenzen Europas durchgeführt werden. Orte wie Moria würden sich dafür eignen, aber „macht sie human“. Außerhalb Europas sei die Einhaltung europäischer Standards schwer gewährleistbar.

Migrationswege für benötigte Arbeitskräfte

Zudem brauche es genügend Personal, um das Prozedere schnell abzuschließen. Asylberechtigte sollten sich dann auf die EU-Länder verteilt keinen Verfahren mehr stellen müssen. Daneben sprach sich Šunjić für die Öffnung von legalen Migrationswegen für benötigte Arbeitskräfte aus. Das größte Einwanderungsprogramm in Europa habe etwa Polen, weil es an Arbeitskräftemangel leide, betonte die Expertin. Die Regierung in Warschau möchte drei Millionen Arbeitsmigrantinnen und -migranten vor allem aus Belarus und der Ukraine. „Es ist dasselbe Polen, das sagt, wir können keinen einzigen syrischen Flüchtling aufnehmen“, sagte sie.

Melita H. Šunjić: „Die von Europa träumen. Wie Flucht und Migration ablaufen“. Picus Verlag, Wien, 2021, 208 Seite, 22 Euro, ISBN 978-3-7117-2095-5

Mangelndes Engagement im Kampf gegen Schlepperwesen

Unverständnis äußerte Šunjić außerdem über das mangelnde Engagement Europas im Kampf gegen das Schlepperwesen. Zwar würden die Länder einzelne kleinere Aktionen setzen, als Beispiel nannte sie, dass zwei Fahrer gestoppt würden. Aber viel zu wenig werde gegen die internationalen Netzwerken unternommen. Dabei seien die Informationen dazu auf Facebook oder Webseiten in den jeweiligen Landessprachen im Internet zugänglich.

Völlige Abghängigkeit von Schleppern

In Afghanistan etwa gebe es eine „Schlepperindustrie“, berichtete Šunjić, die mit vielen Migrantinnen und Migranten sowie Geflüchteten gesprochen hat. Die Schlepper sprächen afghanische Familienväter an und rieten ihnen, ihre Söhne nach Europa zu schicken, weil sie in ihrem Heimatland keine Chancen haben. So werde ein „All-inklusiv-Trip nach Europa gebucht“. Die jungen Afghanen, die kaum Informationen über Europa hätten, seien von den Schmugglern, die sie „Onkel“ nennen, völlig abhängig.

Opfer der „Kidnapping Industrie“

In afrikanischen Ländern sei die Situation eine andere als in Afghanistan. In Ostafrika etwa würden Menschenschmuggler vor Schulen und Sportplätzen junge Menschen locken. In Westafrika wiederum seien es häufig die gebildeten Jungen, die sich auf der Suche nach einem besseren Leben auf den Weg machen und für die erste Etappe einfach einen Bus nehmen können. In Libyen kommen sie dann meist in die Fänge einer „Kidnapping Industrie“. Die Familien der Geflohenen würden erpresst. Reicht das Geld nicht, drohe „Sklaverei“ – sowohl Arbeitssklaverei als auch sexuelle Ausbeutung.

Mehr Zusammenarbeiten mit Herkunftsländern

Šunjić plädierte deswegen an Europa, mit den Herkunftsländern mehr zusammenzuarbeiten. Wenn die Menschen vor den Grenzen Europas stünden, sei es schon zu spät. „Sie haben dann schon zu viel investiert, zu viel Geld, Zeit und Leiden.“ Die Menschen dann zurückzuschicken, sei wie einem Marathonläufer vor der Ziellinie zu sagen, er solle umkehren, erklärte die Expertin.

Unterschiedliche Debatten in Herkunfstländern

In den Herkunftsländern gebe es verschiedene Debatten. Manche Regierungen seien über die Abwanderung gar nicht so unfroh. „Sie wollen sie nicht auf der Straße gegen sich demonstrieren haben, sondern in Europa, von wo sie Geld nach Hause schicken.“ In anderen Ländern wie beispielsweise Somalia, Afghanistan, aber auch Kroatien wiederum gebe es den Wunsch, den „Exodus“ von jungen, gebildeten, ambitionierten Einwohnerinnen und Einwohnern zu stoppen. Sie wollen ihnen in ihrem Heimatland Chancen bieten.

Informationskampagnen statt Migrationsmanagement

„Europa versucht Migrationsmanagement durch Informationskampagnen zu ersetzen“, sagte Šunjić. Doch das funktioniere nicht. Die Migrationsursachen wie Armut oder Krieg könnten mit Kampagnen nicht bekämpft werden. Daher sei es wichtig, die Situation vor Ort zu kennen und nicht nur „die PR-Feeds diverser Regierungen“.

Projekt „Zielland Österreich“

Auch in Österreich ortet die Expertin keine Unabhängigkeit in der Migrationsfrage. Šunjić, die selbst mit ihren Eltern aus Kroatien nach Österreich geflohen war und jetzt Direktorin der Migrationsforschungsagentur Transcultural Campaigning in Wien ist, sieht seit den späten 1980ern eine „Antiausländer-Haltung“ in Österreich. Aktuell erforscht sie die Motivation von Migranten, die nach Österreich zu kommen. Das Projekt „Zielland Österreich“ sei noch nicht fertig. Ergebnisse wollte Šunjić daher keine verraten.