Österreichische Akademie der Wissenschaften

Rolle der Wiener Völkerkunde in NS-Zeit

Über 1.700 Seiten umfasst eine soeben von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) veröffentlichte dreibändige Publikation, in der die wissenschaftliche Disziplin der Völkerkunde in der NS-Zeit untersucht wird.

Die beiden Herausgeber Andre Gingrich und Peter Rohrbacher fokussieren darin auf die Veränderungen des Fachs aus Wiener Sicht. Vor dem „Anschluss“ habe Wien als Metropole der Völkerkunde gegolten. Doch im sogenannten Dritte Reich wurde die Wiener Völkerkunde „grundlegend umgebaut“, wie es in der Ankündigung heißt. Die Verstrickungen der Disziplin in das NS-Herrschaftssystem werden in dem Werk „Völkerkunde zur NS-Zeit aus Wien (1938-1945). Institutionen, Biographien und Praktiken in Netzwerken“ aus neuen Blickwinkeln beleuchtet.

Andre Gingrich und Peter Rohrbacher (Hg.): „Völkerkunde zur NS-Zeit aus Wien (1938-1945). Institutionen, Biographien und Praktiken in Netzwerken“, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 3 Bände, 1740 Seiten, 240 Euro.

Das E-Book ist kostenlos via „open access“ verfügbar.

42 Beiträge auf 1739 Seiten

Die beiden Kultur- und Sozialanthropologen widmen sich dabei sowohl dem Ausmaß der Beteiligungen an verbrecherischen Aktivitäten zur NS-Zeit, als auch den Widerstandsaktivitäten von Völkerkundlerinnen und Völkerkundlern. Insgesamt umfasst die Publikation 42 Beiträge und will darin nicht nur akademische Fachgeschichte, sondern auch Zeitgeschichte erzählen.

Durchführbarkeit von Wissenschaft

„Ebenso finden bislang wenig untersuchte Aspekte Eingang, etwa das Schweizer Exil oder das sogenannte Ahnenerbe der SS“, erläutert Gingrich in einem von der ÖAW veröffentlichten Interview. „Ausschnittsweise wurden manche Bereiche schon bisher von wichtigen Pionieren der Forschung bearbeitet. Aber in derart umfassender Weise ist es das erste Mal.“ Dabei sei es nicht primär darum gegangen herauszufinden, „wer war ein Nazi und wer nicht“, ergänzt Rohrbacher. „Uns ging es vielmehr darum, die Nuancen zu zeigen, wie Wissenschaft innerhalb des NS-Regimes durchführbar war.“

Konsultation von Archiven und privaten Institutionen

Dabei seien viele Schattierungen zum Vorschein gekommen. Auch habe man sich nicht nur auf die Völkerkunde beschränkt, sondern auch einzelne Nachbardisziplinen berücksichtigt, etwa die Physische Anthropologie, die Prähistorie und auch die Afrikanistik, Volkskunde und Japanologie. Dabei konsultierten sie über 100 Archive in zehn Ländern – darunter auch viele private Institutionen. „Private Bestände vermitteln die Korrespondenzen und Netzwerke viel authentischer als Behördenarchive“, weiß Rohrbacher. „Privat wurde offener berichtet oder erzählt, was vor einer Behörde nicht ausgesprochen werden durfte.“ Auf diese Weise hätten sich eine Reihe von Arbeitskonstellationen gezeigt, die auf den ersten Blick im NS-Wissenschaftsbetrieb unmöglich erscheinen.

Zahlreiche völkerkundliche Institutionen vor 1938

In Wien habe es bereits vor 1938 zahlreiche völkerkundliche Institutionen gegeben, darunter das heutige Weltmuseum, damals Museum für Völkerkunde, das Universitätsinstitut, die Missionsschule in Sankt Gabriel bei Mödling, die betreffenden Kommissionen an der Akademie der Wissenschaften und ab 1939 eine eigene Einheit des „Ahnenerbe“ der SS. Das Universitätsinstitut habe bis 1938 in einer Art missions-ethnologischer Tradition gestanden und sei von theologischen Grundideen geprägt gewesen. „Das NS-Regime setzte unmittelbar nach dem ‚Anschluss‘ sehr viel daran, dieses Institut komplett umzukrempeln und neu aufzustellen. Dazu wurden alle älteren Forscherpersönlichkeiten ihrer Lehrmöglichkeiten und ihre Positionen enthoben – mit Ausnahme jener, die am Museum ihre Posten hatten.“

Kolonialpläne des „Dritten Reichs“

Auf sie folgte etwa einer der wenigen ausgewiesenen Afrika-Experten aus Berlin, NSDAP-Mitglied Hermann Baumann. Zusammen mit anderen sollte er den Fokus auf Subsahara-Afrika legen und die damals zu Kriegsbeginn noch wichtigen Kolonialpläne des „Dritten Reichs“ neu ausrichten. „Den deutschen Kolonialismus propagieren und glaubhaft zu machen, dass das Deutsche Reich ein Anrecht auf Kolonien hätte, das war nach 1938 ein Bestreben“, so die Forscher.

Schicksal von Marianne Schmidl

Auch die Rolle von Frauen in diesem Teilbereich der damaligen akademischen Landschaft Wiens wurde untersucht. Sie sei „wesentlich“ gewesen. „Das wichtigste und prominenteste Opfer unter den Absolventinnen der Völkerkunde war Marianne Schmidl. Sie war eine ausgezeichnete Spezialistin für das subsaharische Afrika“, so die beiden im Interview. Nach dem „Anschluss“ hatte sie wegen ihrer jüdischen Herkunft mit zunehmenden Schwierigkeiten bis hin zu ihrer Entlassung zu kämpfen. Sie wurde 1942 in eines der polnischen Lager deportiert und kam auf dem Weg dorthin zu Tode. „Marianne Schmidl wurde schlicht umgebracht. Vor wenigen Jahren haben wir ihr vor ihrem Wohnhaus in Wien eine Gedenkplakette widmen können.“