Der Schweizer Regisseur Milo Rau in einem Interview mit der Austria Presse Agentur (APA) in Salzburg. (3.8.2020)
BARBARA GINDL / APA / picturedesk.com
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Menschen unterstützen, die keine Stimme haben

Der Theaterdirektor und Regisseur Milo Rau gilt als einer der politischsten Theatermenschen der Gegenwart. Rau will mit seiner Arbeit die Welt zu einem besseren, gerechteren Ort machen. Wir haben ein Interview mit ihm bekommen.

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Ana Grilc

Milo Rau hat gerade einen Film über die Flüchtlingskrise in Italien „Das neue Evangelium“ gedreht. Die Hauptrolle spielt ein Flüchtling, der im wirklichen Leben einer jener Feldarbeiter ist, die heute wie Sklaven gehalten werden. Im Kongo hat Milo Rau ein richtiges Tribunal inszeniert, bei dem alle Kriegsparteien – Minister, Opfer und Täter in einem Theater teilnahmen. Nach dem Tribunal im Theater traten Minister zurück. Im Amazonas wollte Milo Rau das Stück Antigone mit den Kleinbauern, denen das Land gestohlen wurde und mit der indigenen Bevölkerung drehen. So sollte auch die Schauspielerin Kay Sara anlässlich der Wiener Festwochen in die Stadt kommen. Aufgrund der Corona-Pandemie kam diese Veranstaltung nicht zustande. Wir haben im Rahmen unseres Projekts die Rede, die Kay Sara zu den Festwochen hätte halten sollen, im Burgtheater auf die Bühne gebracht. Auch zur Freude von Milo Rau: „Herzlichen Dank Eurem Team, dass ihr die Rede meiner Antigone Kay Sara an ihrer Stelle im Burgtheater gehalten habt. Das ist ein echter Akt der Solidarität und zeigt, wie man schnell international vernetzt gegen Unrecht auftreten kann.“

Der Schweizer Regisseur Milo Rau in einem Interview mit der Austria Presse Agentur (APA) in Salzburg. (3.8.2020)
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Milo Rau, in der Rede von Kay Sara heißt es: „Wo Ungerechtigkeit zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“. Wo wird heute Ungerechtigkeit zu Recht?

Rau: Zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik. Da ist klar, dass es nicht rechtens ist, dass man Menschen im Meer ertrinken lässt, Menschen in Lagern sterben lässt. Das ist einfach nicht rechtens. Ich glaube, das merkt jeder Mensch sofort. Es wird ganz schrecklich, wenn sich Politiker und Staaten auf die Rechtslage ausreden und nicht helfen wollen.

War das schon immer so?

Rau: Die Nazis mussten das Recht zuerst abräumen und die Rechtsmöglichkeiten der Minderheiten ignorieren, bevor sie die Diktatur ausriefen. Es gibt im europäischen Flüchtlingsrecht keinen illegalen Grenzübertritt. Es gibt keine Möglichkeit, illegal nach Europa zu kommen, weil es ein Asylrecht gibt. Man muss überprüfen, ob jemand Asylrecht hat, aber man muss grundsätzlich jeden hereinlassen. Das steht im Recht, aber wir akzeptieren das einfach nicht mehr. Daher muss sich jede Bürgerin, jeder Bürger fragen, ob das die Gesellschaft ist, in der sie oder er leben wollen. Da stellt sich eine Regierung gegen das Recht. Tyrannensturz ist angebracht und das muss man dann auch machen. Wir leben ja in einer Demokratie und man kann sagen, das geht nicht, das läuft so nicht.

Also sie meinen Tyrannensturz im übertragenen Sinn. Sie gehen ja mit Kunst gegen Ungerechtigkeiten vor. Ihr Stück Antigone mussten sie wegen Corona absagen. Wäre ihr Konzept, in dem die Urbevölkerung eine Hauptrolle spielt, leicht über die Bühne gegangen?

Rau: Wenn man in den Amazonas geht und die Transamazonica (Anm: Straße) sperrt und sagen, wir machen jetzt Theater mit der Landlosen-Bewegung, mit den Aktivisten, dann kann man nicht sagen, was passieren wird. Da schreitet die Polizei ein und die Medien versuchen dich fertigzumachen. Unter dem Strich entsteht Verwirrung und die Dinge, die unsichtbar waren oder vielleicht sogar geleugnet wurden, werden plötzlich sichtbar. Menschen, die keine Stimme hatten, werden dann wahrgenommen. Das ist das Ziel, warum wir das machen. Wir machen mit der Kunst einen neuen Raum auf.

Sie gehen in die gefährlichsten Krisenherde der Welt, vom Kongo, nach Brasilien, nach Russland und inszenieren Theater mit den Konfliktparteien. Warum trauen Sie sich das zu?

Rau: Da braucht man ein starkes Selbstbewusstsein. Ich muss allen Beteiligten klar machen, dass das jetzt funktionieren wird. Man ist ein Vernichter von Zweifeln. Wenn die Leute sagen, nein, das geht nicht, muss ich ihnen zeigen, dass es sehr wohl möglich ist.

Wie schaffen sie das? Bei ihren Stücken wie beim Kongo-Tribunal nehmen ja vom Minister bis zur Kriegerin alle Konfliktbeteiligten teil?

Rau: Ein starkes Ego hilft da. Wie gesagt, als Künstler und als Regisseur muss ich die ganze Zeit die Zweifel zerstreuen. Man muss dem Kamerateam sagen, da ist zwar die Mafia, aber wir drehen trotzdem. Der Kulturhauptstadt Matera sagen, ihr müsst das jetzt finanzieren, obwohl ihr da ein wenig schlecht aussteigt, aber ihr könnt Einfluss nehmen. Das ist eine Aufgabe, die man nur hinkriegt, wenn man innerlich schon fast künstlich daran glaubt.

Haben Sie keine Angst, dass sie jemandem in einem Kriegsgebiet auf die Nerven gehen und er sie ermordet?

Rau: Ich habe eigentlich nie Angst. Meine reale Angst um mich oder um mein Team wird immer ein bisschen überdeckt von der Angst, dass wir das Projekt nicht zu Ende kriegen. Da ist man in diesem Wahn drinnen, dass es stattfinden muss. Das Team und ich wollen das auch fertigmachen, wenn wir das so lange vorbereitet haben. Da entsteht so ein Trotzbündnis, das nur schwer zu durchschlagen ist von irgendwelcher Polizei, der Mafia oder den Medien.

Wollen die Mächtigen nicht gegen ihre Aktionen vorgehen?

Rau: Es wird fast immer versucht, mit Gewalt gegen uns vorzugehen. Das war auch bei den Moskauer Prozessen so, als der Geheimdienst kam, um alles zu beenden, haben die orthodoxen Priester gesagt, die eigentlich auf der Seite des Staates waren: Nein, das machen wir jetzt fertig! Das wird jetzt nicht unterbrochen! Es kommt zu neuen Allianzen.