Plakat der SVP in Genf mit dem Titel „Zu viel ist zu viel“ zur Bewerbung der Volksabstimmung mit dem Titel „Begrenzungsinitiative“, mit der die Personenfreizügigkeit in der Schweiz begrenzt werden soll.
FABRICE COFFRINI / AFP / picturedesk.com
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Schweiz

Erneut Abstimmung über Zuwanderung

Am Sonntag haben die Schweizer über fünf Volksabstimmungen zu befinden, darunter auch über die sogenannte „Begrenzungsinitiative“ aus der Feder der rechtspopulistischen Volkspartei (SVP), mit der die Personenfreizügigkeit der Eidgenossen mit der EU gekündigt werden soll.

Laut Experten ist eine Annahme aber laut Umfragen nicht zu erwarten. Zum wiederholten Mal will die SVP mit ihrem Vorstoß die „unkontrollierte Massenzuwanderung“ stoppen. Die Schweiz gehört der Europäischen Union nicht an, ist mit ihr aber durch bilaterale Verträge eng verbunden. In Brüssel und Bern werden aber aktuell schon Überlegungen angestellt, einen neuen Rahmenvertrag auszuhandeln. „Die Personenfreizügigkeit ist ein Preis, den Teile der Schweizer Bevölkerung nicht bezahlen wollen“, meinte dazu der Politologe Patrick Emmenegger von der Universität Sankt Gallen gegenüber der APA. „Die Schweiz arbeitet sich seit vielen Jahren an dieser Frage ab. Der Zugang zum Binnenmarkt ist aber nicht gratis.“ Die direkte Demokratie in der Schweiz erlaube es manchen Gruppen, „diese spezifische Frage aus dem Vertragskomplex der bilateralen Verträge herauszulösen und gesondert zum Gegenstand einer Volksabstimmung zu machen. Das ist europaweit einzigartig.“

„Unkontrollierte und exzessive“ Einwanderung

Konkret ist den Skeptikern gegenüber einer engeren Kooperation mit der EU die „unkontrollierte und exzessive“ Einwanderung in die Schweiz ein Dorn im Auge. Den Wohlstand im Land sehen sie in Gefahr, und das Sozialsystem, den Arbeitsmarkt sowie die Infrastruktur ohne Kündigung des Abkommens zu sehr belastet. Bei einer Annahme der „Begrenzungsinitiative“ an der Urne, „dürfte es wohl tatsächlich zu einer Kündigung der Personenfreizügigkeit kommen – mit entsprechend weitreichenden Folgen für die anderen bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU“, analysierte Emmenegger.

Plakat der SVP in Bern zur Bewerbung der Volksabstimmung mit dem Titel „Begrenzungsinitiative“, mit der die Personenfreizügigkeit in der Schweiz begrenzt werden soll.
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Bedeutung der bilateralen Verträge

Allerdings rechnen er und andere Politologen sowie Meinungsforscher nicht damit, dass dies passieren wird. Emmenegger: „Aktuelle Umfragen deuten relativ klar in Richtung Ablehnung der Vorlage, weil die Möglichkeit der Nachverhandlungen mit der EU von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern als wenig realistisch betrachtet wird und die bilateralen Verträge als Gesamtvertragswerk in der Bevölkerung eine relativ hohe Wertschätzung genießen.“

Warnung vor wirtschaftlichen Folgen

Das unterstreicht auch eine breite Phalanx der Gegner der Initiative, darunter die Schweizer Kollegialregierung (Bundesrat), die meisten Parteien im Parlament und Wirtschaftsverbände. Sie warnen nicht zuletzt vor den wirtschaftlichen Folgen durch den Wegfall der Freizügigkeit, steigender Arbeitslosigkeit, Fachkräftemangel und weiteren Folgen der angestrebten Abschottung durch die Initiative.

Zustimmung bei 35-40 Prozent erwartet

Daher ist auch der Meinungsforscher und früherer Leiter des Instituts „gfs Bern“ (Gesellschaft für Sozialforschung), Claude Longchamp, von einer Ablehnung überzeugt. Selbst SVP-Kreise hätten schon durchblicken lassen, „dass 40 Prozent Zustimmung dann schon ganz ordentlich seien. Wir alle rechnen eigentlich mit 35 und 40 Prozent“, meinte der Politologe im APA-Gespräch.

„Definitiv eine heftige Ernüchterung“ für SVP

Das sei dann für die SVP zwar keine Katastrophe, so der Doyen der Schweizer Politik- und Meinungsforschung gegenüber der Austria Presse Agentur, „aber es ist verglichen mit den Ansprüchen, mit denen man angetreten ist, natürlich eine heftige Ernüchterung.“ Eine Zustimmung unter 40 Prozent wäre für das nationalkonservative Lager in der Schweiz „definitiv eine heftige Ernüchterung“.

Ablehnung als Bestätigung des bilateralen Kurses

Für die Schweizer Regierung (Bundesrat) wäre umgekehrt gedacht eine Ablehnung von 60 Prozent oder mehr eine Bestätigung für den aktuellen bilateralen Kurs der Eidgenossenschaft mit der EU. So habe Justizministerin Karin Keller-Sutter von den Freisinnig-Liberalen (FDP) gemeint, ein Verhältnis von 40:60 Prozent wäre eine Basis, „damit wir wieder soliden Boden unter unseren Füßen haben.“

AUNS wirbt mit Kurz’ Aussage

Longchamp: „Und das ist möglich. Damit wäre die europapolitische Front vorerst einmal geklärt.“ Zudem sei auch die Schweizer Gesellschaft von der Coronakrise gezeichnet. Die Mehrheit wolle sich derzeit keine weiteren Unsicherheiten und Probleme aufhalsen. Ein interessantes Detail sei freilich, dass ausgerechnet ein Partner der AVO im Abstimmungskampf, nämlich die „Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS)“ in ihrer Anti-EU-Kampagne mit Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) Stimmung mache. Auf Plakaten ist sein Konterfei zu sehen. Darunter wird der ÖVP-Politiker mit einem Auszug aus einem Zeitungsinterview zitiert: „Die Schweiz ist unter den Top-Staaten, auch weil sie nicht an EU-Regeln gebunden und finanzstark ist.“