Schriftstellerin Nava Ebrahimi
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Corona-Tagenbücher

„Nun wissen wir, wie sehr alles zusammenhängt“

Eigentlich ist es für Nava Ebrahimi sehr gut gelaufen: Ihr zweiter Roman „Das Paradies meines Nachbarn“ wurde vorzeitig ausgeliefert und schaffte es daher rechtzeitig in die damals noch offenen Buchhandlungen.

Dank hervorragender Kritiken wurde auch schon die zweite Auflage in Auftrag gegeben. Dann kam das Coronavirus. Seither ist alles anders. „Alle Lesungen sind abgesagt: vier auf der Leipziger Buchmesse, auf die ich mich besonders gefreut habe, meine Buchpremiere in Graz, und auch in Italien hätte ich drei oder vier Lesungen gehabt, da mein erstes Buch eben auf Italienisch erschienen ist“, sagt die in Graz lebende Autorin im Telefonat mit APA-Journalist Wolfgang Huber-Lang. Das Gespräch findet auf beiden Seiten unter Home-Office-Bedingungen statt, bei Ebrahimi spielen ihre beiden Kinder (4 und 8 Jahre) im Hintergrund.

„Corona-Tagebücher“ des Literaturhauses Graz

In ihrem ersten Beitrag für die vom Literaturhaus Graz herausgegebenen „Corona-Tagebücher“ hatte Ebrahimi vor wenigen Tagen geschrieben: „Tag Eins der Quarantäne. Ich frage mich, ob ich es schaffen werde, diese Zeit sinnvoll zu verbringen, mit viel Lesen, vielleicht sogar Schreiben, mit morgendlichem Yoga, Frühjahrsputz, Waldspaziergängen oder noch besser: Waldbaden. Ob wir endlich einmal mit unseren Kindern basteln werden. Ob wir es schaffen werden, eine neue Routine zu finden, ob wir nachher sagen können, es hatte auch etwas Gutes, Entschleunigung, Besinnung. Ob wir werden sagen können, dass wir zusammengewachsen sind, als Familie, aber auch insgesamt als Gesellschaft.“

„Das Paradies meines Nachbarn“ von Nava Ebrahimi
(c) Verlagsgruppe Random House GmbH, Muenchen

Nava Ebrahimi: „Das Paradies meines Nachbarn“, Roman, btb, 222 Seiten, 20,60 Euro, ISBN 978-3-442-75869-2

„Wie es mir geht, ist derzeit sehr von der Tagesverfassung abhängig“

„Wie es mir geht, ist derzeit sehr von der Tagesverfassung abhängig“, gesteht die Autorin. „Ich habe drei Jahre an meinem Buch gearbeitet, und nun hängt alles in der Luft. Andererseits finde ich es super, dass derzeit so viele Leute aktiv sind und nicht aufgeben. Und vor allem relativiert der Blick nach Italien, Spanien oder auf den Iran unsere eigene Situation sehr.“ Nava Ebrahimi wurde 1978 in Teheran geboren und studierte in Köln Journalismus und Volkswirtschaftslehre. Der Iran ist von der Coronavirus-Pandemie besonders stark betroffen. „Ich habe Verwandte und Freunde im Iran. Alle sind derzeit zuhause und schotten sich ab. Aber rund um das persische Neujahrsfest Nouruz war das besonders schwer. Da sind die Menschen normalerweise besonders viel unterwegs und besuchen einander.“

Gesundheitskrise im Iran

Ob die Gesundheitskrise und die damit verbundenen rigiden Maßnahmen im Endeffekt dem Mullah-Regime, das in den vergangenen Monaten immer wieder mit heftigen Protesten konfrontiert war, eher schaden oder nutzen werde, sei im Moment „ganz schwer zu sagen“, meint Ebrahimi. Klar sei aber, dass der in ihrem Buch eine zentrale Rolle spielende Iran-Irak-Krieg (1980-1988) im Iran noch immer stark nachwirke, nicht zuletzt, da die heute herrschende politische Elite von der Fronterfahrung von damals geprägt sei. „Im Gegensatz dazu empfand ich immer, dass dieser Krieg in der westliche Welt zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat. Es war der längste klassische Krieg zwischen zwei Ländern im 20. Jahrhundert. Auf iranischer Seite starben dabei zwischen 80.000 und 100.000 Kindersoldaten.“

„Ich gehe von Figuren aus“

Doch es sei keine Absicht von „Das Paradies meines Nachbarn“ gewesen, dieses Thema hierzulande ins Bewusstsein zu rücken. „Ich verfolge beim Schreiben keine speziellen Intentionen. Ich gehe von Figuren aus. Bei meiner Hauptfigur war es das Umdeuten der Bedürftigkeit und Schwäche, die er als Flüchtling mitbringt, in eine Stärke. Noch mehr hat mich aber interessiert, was er damit auslöst, was das über uns und unsere Ängste und Befindlichkeiten aussagt. In unserer Gesellschaft haben Männer ja eine unterschwellige Angst, verweichlicht zu sein und sich im Ernstfall nicht verteidigen zu können. Und dann kommt jemand, der sagt: ‚Ich war im Krieg, ich hab alles erlebt, ihr könnt mir gar nichts anhaben!‘ Dieses Zusammentreffen fand ich interessant.“

Können nichts mehr als ‚weit weg‘ abtun

Immer wieder wird von nicht in Deutschland und Österreich geborenen, aber auf Deutsch schreibenden Autorinnen und Autoren beklagt, man bekäme leicht das Etikett „Emigrantenliteratur“ verpasst. Wie geht es Nava Ebrahimi damit? „Ich finde das etwas zwiespältig. Einerseits profitiere ich auch ein Stück weit davon. Andererseits ist mir schon aufgefallen, dass mein erstes Buch häufig auf den ‚Einblick in fremden Welten‘ reduziert wurde. Dabei wollte ich damit auch viel über die deutsche und die österreichische Gesellschaft erzählen und habe mich immer besonders gefreut, wenn das auch erkannt wurde. Dasselbe gilt jetzt für meinen zweiten Roman. Auch der soll als Spiegel in beide Richtungen funktionieren. Denn heute können wir nichts mehr als ‚weit weg‘ abtun. Spätestens seit dem Coronavirus wissen wir, wie sehr alles zusammenhängt. Wenn der sprichwörtliche Sack Reis in China umfällt, kann es auch bei uns ganz schön ungemütlich werden.“