Dorf Braschten in Bulgarien
DIMITAR DILKOFF / AFP / picturedesk.com
DIMITAR DILKOFF / AFP / picturedesk.com
Experten

Emigration gefährdet Demokratie in Osteuropa

Experten sehen durch die massive Abwanderung aus Mittelost- und Südosteuropa die Demokratie in den betroffenen Staaten gefährdet.

„Die Bevölkerungsimplosion, verbunden mit einer zunehmenden Emigration, schafft eine Situation, in der die Regierungen darüber entscheiden, welche Art von Volk sie haben wollen“, sagte der Politikwissenschafter Ivan Krastev gestern bei einem Seminar in Wien. „Man muss die Leute nicht mehr nach Sibirien schicken, es reicht, die Grenzen zu öffnen“, sagte der Forscher am Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) sarkastisch. Untersuchungen hätten nämlich gezeigt, dass in anderen Mitgliedsstaaten lebende EU-Bürger tendenziell liberaler und pro-europäischer seien. Die Auswanderung bewirke zudem eine massive demografische Schieflage, weil hauptsächlich junge Menschen auswanderten.

Vergleich mit 19. Jahrhundert

Dies könnte dazu führen, dass in den Staaten der Region die dezimierte jüngere Generation von Ruheständlern überstimmt werde. Schon in „20, 30 Jahren“ könnte eine Situation wie im 19. Jahrhundert „mit einer Mehrheit der Wähler jenseits des Erwerbsalters“ entstehen, sagte Krastev in Anspielung auf das damals nur Vermögenden vorbehaltene Wahlrecht. Der bulgarische Politologe verglich die Situation mit jener vor dem Bau der Berliner Mauer, mit der die kommunistische Deutsche Demokratische Republik (DDR) die Abwanderung ihrer Leistungsträger in den Westen stoppen wollte.

Alarmierende Bevölkerungsprognosen

Der Analyst der britischen Wochenzeitung „Economist“, Tim Judah, präsentierte bei dem von der Erste Stiftung und dem forum journalismus und medien (fjum) im Presseclub Concordia organisierten Seminar alarmierende Bevölkerungsprognosen für die mittelost- und südosteuropäischen Staaten. Mit Ausnahme Österreichs und Sloweniens werde die Bevölkerung bis zum Jahr 2050 in allen Staaten schrumpfen.

Bulgarien werde um 39 Prozent weniger Einwohner haben als im Jahr 1989, Rumänien um 30 Prozent, gefolgt von Bosnien-Herzegowina (-29 Prozent), Serbien (-24 Prozent), Kroatien (-22 Prozent), Ungarn (-20 Prozent), Albanien (-18 Prozent), Polen (-14 Prozent) und dem Kosovo (-11 Prozent). Vergleichsweise moderate Einbußen zwischen zwei und sechs Prozent seien für Griechenland, Tschechien, Nordmazedonien, Montenegro und die Slowakei zu erwarten, zitierte Judah Berechnungen der Weltbank. Österreich könne mit einem Bevölkerungsplus von 16 Prozent rechnen.

„Entvölkerung ländlicher Gebiete“

Auch Judah zog einen Vergleich zum 19. Jahrhundert, als es eine starke Abwanderung vom Land in die Städte gab. „Im heutigen Europa sind diese Staaten die Dörfer und die westeuropäischen Staaten die großen Städte“, sagte er. Der Unterschied zur damaligen Zeit sei aber, dass diese Entwicklung nicht durch eine hohe Geburtenrate in den Abwanderungsgebieten abgefedert werde. „Die Folge ist die Entvölkerung ländlicher Gebiete.“

Hälfte der bsonischen Bevölkerung im Ausland

Die bosnische Migrationsexpertin Alida Vračić berichtete, dass bereits die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung ihres Landes im Ausland lebe. Im ganzen Land schössen Organisationen, die Sprachkurse, Trainings und Zertifikate für Auswanderungswillige anbieten, „wie die Pilze aus dem Boden“. Hunderte Ärzte gingen in die EU-Staaten, insbesondere nach Deutschland, sagte die Gründerin der Denkfabrik Populari. Ausländische Konzernmütter würden qualifizierte Mitarbeiter ihrer bosnischen Töchter abwerben. Die Abwanderung habe nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern sei auch politischem Klientelismus und niedriger Lebensqualität geschuldet. So hätten bosnische Städte die schlechteste Luftqualität der Welt, sagte Vračić. Die Luft Sarajevos sei viel stärker verschmutzt als jene Pekings.

Starke Auswanderung in Visegrád-Staaten seit Jahrtausendwende

In den Visegrád-Staaten (Tschechien, Slowakei, Polen und Ungarn) ist die Auswanderung seit der Jahrtausendwende stark angestiegen, berichtete András Kováts von der ungarischen Migrationsorganisation Menedek. Polen hätten 4,4 Millionen Menschen verlassen, was 11,7 Prozent der Gesamtbevölkerung entspreche. Es folgen Tschechien (8,5 Prozent), Ungarn (6,5 Prozent) und die Slowakei (6,3 Prozent). Obwohl es kaum nennenswerte Einwanderung gibt und auch die Geburtenraten niedrig sind, konnten die vier Staaten ihren Bevölkerungsstand bisher weitgehend halten. „Das liegt hauptsächlich an der gestiegenen Lebenserwartung“, sagte Kováts.