Das Rettungsschiff „Ocean Viking“ im Hafen von Marseille, mit dem die französische NGO „SOS Mediterranee“ und „Medecins sans Frontieres“ (MSF – Ärzte ohne Grenzen) wieder ihre Rettungseinsätze im Mittelmeer aufnehmen. (4.8.2019)
CLEMENT MAHOUDEAU / AFP / picturedesk.com
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Mittelmeer

„Ocean Viking“ setzt Maßstäbe

Stefanie und Michael wissen, was sie tun. Das große rote Schiff, auf dem sie stehen – sie haben sich freiwillig entschieden, hier Wochen zu verbringen. Und dabei werden sie auch viel Elend erleben.

Die Hebamme und der Medizinstudent aus Deutschland sind nicht das erste Mal als Seenotretter im Mittelmeer im Einsatz. Und doch ist es dieses Mal etwas Besonderes. Mit der „Ocean Viking“ nehmen Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée ihre Arbeit wieder auf. Die gemeinsam betriebene „Aquarius“ war nach einem politischen Tauziehen Ende 2018 stillgelegt worden.

Für bis zu 200 Menschen

Bis zu 200 Menschen kann das Schiff unter norwegischer Flagge aufnehmen. Im Notfall auch mehr, auf eine Zahl möchte sich niemand festlegen. Die „Aquarius“ hatte Platz für bis zu 500 Menschen.

Größtes Rettungsschiff im Mittelmeer

Jetzt also auf ein Neues. Immer wieder spielen sich im Mittelmeer Tragödien ab. Migranten ertrinken – sterben vor den Toren Europas. Doch wer gerettet wird, ist keineswegs willkommen. Die Suche nach sicheren Häfen wird jedes Mal zu einem Tauziehen – gerettete Migranten müssen teils Wochen auf den Schiffen ausharren. Die „Ocean Viking“ ist nun das größte Rettungsschiff im Mittelmeer, gestern sei sie von Marseille ausgelaufen – ihr Einsatz dürfte den Entscheidungsdruck auf Europa weiter erhöhen.

Das Rettungsschiff „Ocean Viking“ im Hafen von Marseille, mit dem die französische NGO „SOS Mediterranee“ und „Medecins sans Frontieres“ (MSF – Ärzte ohne Grenzen) wieder ihre Rettungseinsätze im Mittelmeer aufnehmen. (4.8.2019)
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1.000 Rettungswesten an Bord

Wenige Tage vor der Abfahrt der „Ocean Viking“ liegt das riesige rote Schiff im Hafen von Marseille in Südfrankreich. Die Sonne brennt, die letzten Arbeiten werden erledigt, irgendwo im Hintergrund hört man ein Schweißgerät. An Deck des fast 70 Meter langen Schiffes lagern 1.000 Rettungswesten, verpackt in Dutzenden Säcken, voll bis oben hin. Nicht weit entfernt liegt eine große Puppe – mit ihr üben die Seenotretter den Einsatz.

Drei medizinische Untersuchungsräume

Es gibt auf der „Ocean Viking“ eine 360-Grad-Rundbrücke für bessere Sicht, einen Hubschrauberlandeplatz und drei medizinische Untersuchungsräume. Sie sind in Containern untergebracht, dort stehen Pritschen, Kisten voll mit Medikamenten und Verbandszeug, ein Vitaldatenmonitor. Alles wirkt funktional und schlicht – aber hochprofessionell. An Bord sind ein Rettungsteam von SOS Méditerranée und ein medizinisches Team von Ärzte ohne Grenzen im Einsatz.

Neuer Rettungseinsatz für die Hebamme

Dazu gehört die 31-jährige Stefanie aus Süddeutschland. Die junge Hebamme war bereits 2018 auf der „Aquarius“. Für sie beginnt nun ein neuer Rettungseinsatz. Wenn Stefanie über ihre Erfahrungen auf der „Aquarius“ berichtet, wirkt sie gefasst. „Oft gab es Frauen, die vergewaltigt worden waren“, erzählt sie. Wie geht man damit um? „Man funktioniert einfach und macht seine Arbeit – stellt seine eigenen Bedürfnisse zurück.“

Verbrennungen durch Benzin und Salzwasser

Besonders häufig litten gerettete Frauen und Kinder unter Verbrennungen. Sie sitzen in der Regel in der Mitte der Boote – dort sammelt sich ausgelaufenes Benzin. In Verbindung mit dem Salzwasser wird es zu einer ätzenden Mischung. Beine, Hüfte – sie verbrennt alles gnadenlos. „Einmal wurde auch während der Rettung ein Baby auf einem Schlauchboot geboren“, erzählt Stefanie, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte.

Das Rettungsschiff „Ocean Viking“ im Hafen von Marseille, mit dem die französische NGO „SOS Mediterranee“ und „Medecins sans Frontieres“ (MSF – Ärzte ohne Grenzen) wieder ihre Rettungseinsätze im Mittelmeer aufnehmen. (4.8.2019)
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Hier ist erst einmal Sicherheit

Für Frauen und Kinder gibt es auf der „Ocean Viking“ einen schlichten Schutzraum – an den Wänden hängen ein paar Bilder. Der Container ist keine 30 Quadratmeter groß, es gibt zwei Toiletten, einfache Duschen. Der Schutzraum kann blitzschnell in ein Notfallzentrum umgebaut werden, falls es besonders viele Schwerverletzte an Bord gibt. Der Container für Männer ist gut 80 Quadratmeter groß und ein paar Schritte entfernt. Auch hier ist alles auf das Nötigste begrenzt. Doch wer es hier hin schafft, ist erst einmal in Sicherheit. Denn, das berichten die Helfer, nicht immer können alle gerettet werden. Oft können sie nur noch Tote bergen.

Gefährlichere Überfahrt

Seit Beginn des Jahres sind der Internationalen Organisation für Migration zufolge im Mittelmeer Hunderte Menschen bei der Flucht ums Leben gekommen. Zwar machen sich deutlich weniger Menschen auf den Weg als in den Vorjahren – die Überfahrt sei aber gefährlicher geworden, warnen Menschenrechtsorganisationen. Setzt man die gesunkene Zahl der Abfahrten ins Verhältnis zu den Todesfällen, kommen mehr Menschen ums Leben. Viele Unglücke werden außerdem gar nicht bekannt, weil weniger Retter im Einsatz sind.

Hetze gegen Seenotretter

Besonders Italiens rechter Innenminister Matteo Salvini hetzt gegen Seenotretter. Ihre Einsätze würden die Menschen erst zum Aufbruch motivieren, denn die wüssten ja, dass sie gerettet würden, argumentieren er und andere Gegner der Seenotrettung. Die Retter würden sich zu Gehilfen der Schlepper machen, seien selbst „Kriminelle“. Dieses sogenannte Pull-Faktor-Argument ist hoch umstritten und von vielen Wissenschaftern widerlegt.

„Flucht wird häufig viel zu schlicht gedacht“

„Das Thema Flucht wird häufig viel zu schlicht gedacht“, sagt der Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück. Da gebe es die Vorstellung, dass sich jemand zum Beispiel aus Ostafrika auf den Weg mache, in kürzester Zeit in Nordafrika ankomme und dort einen Schlepper finde, der ihm die Fahrt übers Mittelmeer organisiere. „Und wenn dann während der Überfahrt was passiert, wird man auf jeden Fall gerettet – deswegen geht man das Risiko auch eher ein. Doch so einfach ist es nicht, Fluchtbewegungen sind wesentlich komplexer“, betont der Experte. Dass weniger Menschen die Überfahrt wagen, liege auch daran, dass Schlupflöcher wie Libyen immer schwerer zu erreichen seien.

Das Rettungsschiff „Ocean Viking“ im Hafen von Marseille, mit dem die französische NGO „SOS Mediterranee“ und „Medecins sans Frontieres“ (MSF – Ärzte ohne Grenzen) wieder ihre Rettungseinsätze im Mittelmeer aufnehmen. (4.8.2019)
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„Italien ist für uns keine Option anzulanden“

Italiens populistische Regierung weigert sich, NGO-Schiffe anlegen zu lassen – immer wieder spielen sich im Mittelmeer Dramen ab. Im Hinterkopf hat auch SOS Méditerranée den Fall der Kapitänin Carola Rackete. Die deutsche Kapitänin fuhr vor kurzem trotz eines Verbots mit dem Rettungsschiff „Sea-Watch 3“ und Dutzenden Migranten an Bord unerlaubt in den Hafen von Lampedusa. Ihr könnte der Prozess gemacht werden. „Italien ist für uns keine Option anzulanden“, betont der SOS-Méditerranée-Geschäftsführer David Starke. Das dürfte schwierig werden.

Perfekte Bühne für Salvini

Mit dem Auslaufen der „Ocean Viking“ spitzt sich die Lage auf dem Mittelmeer weiter zu und der Druck auf Länder wie Malta und Italien wächst. Denn es warten schon andere Rettungsschiffe auf Einlass. Für Matteo Salvini ist das Katz-und-Maus-Spiel mit den Seenotrettern die perfekte Bühne. Gerne inszeniert er sich als harter Minister, der keine „Illegalen“ nach Italien lässt. Selbst aus dem Urlaub am Adriastrand meldet er sich mit Schimpfwörtern zu Wort, mit denen er Hilfsorganisationen oder andere Länder wie Deutschland überzieht. Wenn die NGO-Schiffe in italienische Gewässer fahren, „beschlagnahmen wir eins nach dem anderen. Wir werden sehen, wer zuerst müde wird“, verkündete er. Eine Einigung der Europäer auf einen Mechanismus zur Verteilung der Migranten ist nicht in Sicht.

Tage oder Wochen auf dem Schiff ausharren

Salvinis Kalkül ist, dass die Schiffe nach Italien fahren und dort aus dem Verkehr gezogen werden können. Für die „Ocean Viking“ könnte die Situation an den Mittelmeerhäfen bedeuten, dass die Migranten Tage, vielleicht Wochen auf dem Schiff ausharren müssen. Wie lange das maximal tragbar ist – das ist unklar. „Der Kapitän oder die Kapitänin muss entscheiden, was das Beste ist“, sagt Starke von SOS-Méditerranée.

Kein Zurückbringen nach Libyen

Fest steht für die Rettungsorganisation jedenfalls: Zurück nach Libyen werden die Geretteten nicht gebracht. Denn das Land biete keinen sicheren Hafen. Das bewerten internationale Experten genauso. Die Vereinten Nationen sehen Flüchtlinge in dem Krisenland dem Risiko von willkürlicher Haft, Folter, sexueller Gewalt, Zwangsarbeit und Tötung ausgesetzt.

Kriminalisierung der Rettungseinsätze

Den 23-jährigen Michael, der in Kiel Medizin studiert, treibt die Kriminalisierung der Rettungseinsätze um. Das Schiff, auf dem er zuvor im Einsatz war, wurde beschlagnahmt. Eine prägende Erfahrung sei das gewesen. „Seit Jahren ertrinken in einer der am besten überwachtesten Seeregionen der Welt, im zentralen Mittelmeer, Menschen“, erzählt der großgewachsene blonde Mann über seine Motivation. Das sei ein Unding.

„Dass man Menschen die Hand reicht“

Auf der „Ocean Viking“ wird er wohl bis Anfang September für SOS-Méditerrané sein. Der gelernte Notfallsanitäter kann dort in der Klinik aushelfen und wird auf dem Schiff mitanpacken. Dort kennt er sich bereits bestens aus. Er zeigt, wo die aufblasbaren Schnellboote – die sogenannten Bananen – sind und wie genau die Geretteten an Bord gebracht werden. Für ihn ist dieser Einsatz genau das Richtige – und steht außer Frage. „Der kleinste gemeinsame Nenner sollte einfach sein, dass man Menschen, denen das Ertrinken droht, die Hand reicht und nicht die Augen davor verschließt.“