Fakten und Mythen zu Migration und Integration

Obwohl ganze Branchen ohne Migration zusammenbrechen würden, ist die Mehrheit der Österreicher Zuwanderern gegenüber kritisch eingestellt.

Österreich hat eine lange Geschichte der Zuwanderung, mit 14 Prozent hat es derzeit den fünfthöchsten Migrantenanteil der EU. Soziologe Max Haller will nun mit dem Band „Migration und Integration. Fakten oder Mythen“ zu einer sachlicheren Sichtweise beitragen. 17 „fragwürdige Schlagwörter bzw. Aussagen“ werden in dem Sammelband präsentiert und von Wirtschafts- und Sozialwissenschaftern auf ihren Wahrheitsgehalt abgeklopft, vom tendenziösen Herausgreifen einzelner Ereignisse und Fakten oder vereinfachenden Thesen bis hin zu Ansätzen von echten Mythen.

Max Haller (Hg.): „Migration und Integration. Fakten oder Mythen?“, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 149 Seiten.

Präsentation am 6. Dezember 2018 im Rahmen der Fünften Jahrestagung der Migrations- und Integrationsforschung in Österreich zum Thema „Einwanderungskontinent Europa“, veranstaltet von ÖAW und Uni Wien vom 5. bis 7. Dezember 2018 in Wien

Jahrestagung der Migrations- und Integrationsforschung

Morgen wird der Sammelband bei der von Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Uni Wien organisierten fünften Jahrestagung der Migrations- und Integrationsforschung zum Thema „Einwanderungskontinent Europa“ präsentiert, Mitte Dezember soll das Buch im Verlag der ÖAW erscheinen.

Mehrheit der Bevölkerung sieht Zuwanderung kritisch

Der signifikante Beitrag von Migration zur wirtschaftlich positiven Entwicklung Österreichs „steht außer Frage“, schildert Haller in seiner Einleitung. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht Zuwanderung allerdings kritisch und fordert eine Begrenzung, vor allem seit 2015 viele Flüchtlinge ins Land gekommen sind. 51 Prozent der Österreicher assoziieren Migration mit Kriminalität, zwei Drittel mit Problemen für den Wohlfahrtsstaat, zitiert Haller aus Umfragen.

Kriminalität generell anfällig für „Mythenbildung“

„Zuwanderung erhöht Kriminalität und straft Integrationserwartungen Lügen“ heißt denn auch ein Kapitel in dem Sammelband. Wie Walter Fuchs und Arno Pilgram vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie der Uni Wien zeigen, ist Kriminalität allerdings generell anfällig für „Mythenbildung“. Entgegen der Darstellung in Boulevardmedien ist die Kriminalitätsrate seit eineinhalb Jahrzehnten rückläufig. Zwar gab es eine deutliche Zunahme von Anzeigen, in denen Ausländer involviert sind. Die Rate der Tatverdächtigen reduziert sich allerdings auf ein normales Niveau, wenn man die generelle Zunahme an Migranten berücksichtigt, unter denen zudem ein überproportionaler Anteil an jungen Männern ist. Einschränkung: Bei Männern aus Nicht-EU-Ländern ist die Rate tatsächlich „deutlich höher“. Dazu kommt laut den Autoren, dass die Strafverfolgungsbehörden Ausländer als Risikogruppe einschätzen und ihnen daher „vergleichsweise streng“ begegnen. In manchen Fällen sehen die Autoren Anzeigen gar als Indiz für Integration, etwa wenn Frauen bestimmte Formen patriarchaler Gewalt in der Familie nicht mehr akzeptieren.

Migration als Normalität

Die Migration als Normalität beschreibt Sylvia Hahn in ihrem Beitrag. Sie sei „ein Aspekt der gesamten Menschheitsgeschichte“: Schon in Altertum und Mittelalter, besonders stark mit der beginnenden Neuzeit fanden massive Wanderungen statt. Durch enormen Zuzug war etwa in der späten Habsburgermonarchie die Einwohnerzahl Wiens von etwa einer halben Million Mitte des 19. Jahrhunderts auf zwei Millionen um die Jahrhundertwende angestiegen.

Simulation eines totalen Zuwanderungsstopps

Die Behauptung, dass Zuwanderer Einheimischen die Arbeitsplätze streitig machten oder den Lohn drücken, wird von Gudrun Biffl in ihrem Beitrag stark relativiert. Wenn überhaupt, würden solche Effekte vor allem andere weniger qualifizierte Migranten treffen. Jörn Kleinert und Daniel Reiter haben wiederum einen totalen Zuwanderungsstopps simuliert: Die Folge wären erhebliche Rekrutierungsprobleme in Branchen wie Landwirtschaft, Baugewerbe, Teilen der Industrie, Tourismus sowie Gesundheit und Pflege, eine noch raschere Überalterung der Bevölkerung und damit rascherer Anstieg der Abgabenlast für Berufstätige. Dass Asylwerber Österreich angeblich nur Kosten verursachen, wird in dem Band ebenfalls infrage gestellt: So zeigen Franz Prettenthaler und Christoph Neger anhand von zwei systematischen Studien, dass etwa zehn Jahre nach Zuzug die staatlichen Einnahmen durch Steuern und Sozialabgaben von Flüchtlingen die Belastungen der ersten Jahre übersteigen.

Angeblicher Kinderreichtum nicht belegbar

Auch „vielerlei verzerrte Vorstellungen“ über Zuwanderer und Asylwerber werden thematisiert: So machen Muslime zwar die Mehrheit der Flüchtlinge aus, aber weniger als die Hälfte der Menschen mit Migrationshintergrund. In dreißig Jahren werden Muslime demnach je nach weiterer Entwicklung der Zuwanderung ein Zehntel bis ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen. Auch der angebliche Kinderreichtum von Zuwandererfamilien ist nicht belegbar: Tatsächlich gibt es laut einer Untersuchung von Markus Kaindl in Familien von Zuwanderern der ersten Generation häufiger drei Kinder, mehr Nachwuchs ist allerdings auch dort eine Seltenheit. In der zweiten Generation gebe es dann praktisch überhaupt keinen Unterschied mehr zu Einheimischen.

„Deutliche Abnahme der Familiensprachen“

„MigrantInnen wollen nicht Deutsch lernen“ ist dem Band zufolge ebenfalls nur ein weiterer Allgemeinplatz, beim Mikrozensus 2014 gab nur ein Fünftel der Zugewanderten an, nur über geringe Deutschkenntnisse zu verfügen; bei Migranten der zweiten Generation tut das so gut wie niemand mehr. Eine Befragung unter Wiener Volksschulen ergab außerdem eine „deutliche Abnahme der Familiensprachen“ über die Generationen, stattdessen wird zuhause auch Deutsch gesprochen.

Stereotyp vom „Wirtschaftsflüchtling“

Das Stereotyp vom „Wirtschaftsflüchtling“, dem Fluchtgründe abgesprochen werden und der angeblich das Asylrecht missbraucht, wurde zwar teilweise bereits in den täglichen Sprachgebrauch übernommen. Gerechtfertigt ist das allerdings laut Soziologin Laura Wiesböck nicht: In einer Befragung unter 1.600 Flüchtlingen in Wien gab die Mehrheit Angst vor Krieg, Zwangsrekrutierung zum Militär oder Verfolgung wegen religiöser oder politischer Orientierungen als Grund an.

Keine Mehrheiten in manchen Wiener Bezirken

„Sind Österreicher in manchen Bezirken bereits in der Minderheit?“ fragt Christina Schwarzl in ihrem Beitrag. Tatsächlich konzentriert sich die Bevölkerung mit ausländischen Wurzeln auf bestimmte Regionen bzw. bestimmte Bezirke mit preiswerteren Wohnungen. Doch selbst in den Wiener Bezirken mit dem höchsten Zuwandereranteil stellen Menschen mit Migrationshintergrund in der Regel nicht die Mehrheit. Schließlich suchen auch einheimische Geringverdiener dort Wohnungen, wo die Mieten am günstigsten sind. Zu einer problematischen räumlichen Entmischung kommt es dann, wenn „besser gestellte“ Österreicher aus diesen Gegenden wegziehen oder ihre Kinder nicht in die Schule ums Eck schicken.

„Modellabkommen“ über globale Mobilität

Die Konferenz zum „Einwanderungskontinent Europa“ startet heute mit einer Podiumsdiskussion, bei der Michael Doyle von der Columbia University (New York) mit Expertinnen und Experten ein „Modellabkommen“ über globale Mobilität vorstellt. Abschluss der Konferenz bildet am Freitag die Keynote Lecture des französischen Demographen Philippe Fargues (Europäisches Hochschulinstitut Florenz) über aktuelle Entwicklungen in der arabischen Welt und deren Folgen.

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