Fokus auf Migration „Ablenkung“

Der Fokus auf Flucht und Migration in gegenwärtigen europäischen Debatten lässt sich für den Historiker Philipp Ther „rein rational“ nicht erklären.

Das „akute Problem“ von 2015 „scheint heute weitgehend bewältigt“. Das Feld diene mittlerweile dazu, „von anderen Themen abzulenken“, sagt Ther im Vorfeld des Salzburg-Gipfels im Gespräch mit der APA.

Philipp Ther ist Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Derzeit unterrichtet er als Gastprofessor an der New York University. Für sein Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ erhielt er 2015 den Sachbuch-Preis der Leipziger Buchmesse. Sein jüngstes Werk „Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa“ ist 2017 im Suhrkamp-Verlag erschienen.

Beispiel Ungarn

Als Beispiel nennt der Wiener Universitätsprofessor Ungarn. Das Thema Flucht und Migration werde von Premier Viktor Orbán und seiner Regierung eingesetzt, um von Problemen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und von Korruptionsfällen abzulenken, und nicht zuletzt auch, um „die eigene Anhängerschaft zu mobilisieren“. Beim „derzeitigen Streit“ in Europa gehe es aber „tieferliegend“ auch um etwas anderes, "nämlich um die Frage der nationalen Souveränität, und „wie viel Macht man noch Brüssel“ überlasse.

Außengrenzschutz „als Minimalkonsens“

Dabei zeichne sich der Außengrenzschutz „als Minimalkonsens in der Asylpolitik“ ab. Europa ziehe bei diesem Thema an einem Strang, letztlich ginge es auch dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel um „kontrollierte Migrationsströme und die Kontrolle von Fluchtbewegungen“ - auch wenn Orban Macron jüngst als „Unterstützer von Migranten“ attackiert habe.

Salzburg wird am Mittwoch und Donnerstag (19. & 20.9.2018) zum Zentrum der Europapolitik: Die 28 EU-Staats- und Regierungschefs kommen zum informellen Treffen in die Mozartstadt.

Migration zu „managen“ ist „Illusion“

Es wäre für Ther allerdings eine „Illusion“ zu glauben, dass man Migration durch eine Aufstockung der EU-Grenzschutzagentur Frontex „managen“ könnte. Die Flucht und andere Formen der Migration würde dadurch lediglich „verteuert“, generell spiele die Kriminalisierung der Migration den Schleppern und Banden in die Hände. „Dies würde auch zu einer weiteren sozialen und geschlechtlichen Selektion der Flüchtlinge und Migranten führen.“ Wahrscheinlich würden „dann noch mehr junge Männer ankommen, die sich unter den verschlechternden Bedingungen durchsetzen könnten“.

Mehr auf Resettlement setzen

Ein „umfassenderes Management“ von Fluchtbewegungen müsste stärker auf internationales Resettlement (Neuansiedlung) aus Konfliktgebieten setzen, um die Fluchtwege weniger gefährlich zu machen und akut bedrohten Menschen zu helfen. Diese Diskussion werde auf europäischer Ebene auch geführt, allerdings habe sich Österreich nicht an diesbezüglichen Beschlüssen und Zusagen von insgesamt 19 EU-Staaten im Frühjahr beteiligt. Neben dem „humanitären Ansatz“ gebe es den „militärischen“, der darauf abziele, die Grenzen immer weiter abzusichern. Das könnte eines Tages zu einem „Schießbefehl“ führen, „wenn man wirklich will, dass niemand ankommt.“

Zu wenig Mittel für „Hilfe vor Ort“

„Hilfe vor Ort“, die neue Zauberformel, die auch vom österreichischen Ratsvorsitz propagiert wird, sei sicher ein „ganz wichtiges Element“. Die Aufgaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hätten sich aufgrund des knappen Budgets aber „immer mehr in Richtung Nothilfe“ verlagert. Viel zu wenig werde hingegen für die Integration vor Ort, etwa durch den Bau von Schulen, getan. Jeder EU-Mitgliedsstaat müsse sich „selbstkritisch fragen, wurden und werden Mittel in diesem Bereich überhaupt bereitgestellt - und reichen sie aus. Österreich ist hier im Rückstand.“ Ther erinnert in diesem Zusammenhang auch daran, dass der Mangel an Hilfsmittel „der Auslöser des großen Exodus aus dem Nahen Osten in die EU 2015 war“.

„Teufelskreislauf gegenseitiger Abgrenzung und Ausgrenzung“

Die zunehmende Abgrenzung nach außen führe außerdem zu einer stärkeren Abgrenzung nach innen, stellt Ther fest. Er befürchtet einen „Teufelskreislauf gegenseitiger Abgrenzung und Ausgrenzung“ und dass Flüchtlinge und Migranten „in dieser Gesellschaft gar nicht mehr ankommen können.“ Die Kürzungen der Bundesregierung im Bereich Integration würden in diese Richtung weisen. Wenn man etwa Mittel im Bereich Sprachunterricht kürze, werde das „Kosten in die Zukunft verlagern“. „Je pragmatischer man bei den Integrationsmaßnahmen vorgehe und je mehr man investiere, desto mehr werde sich das auszahlen.“ Er hoffe, dass sich in Österreich politisch „der Pragmatismus durchsetzt“. Auf lokaler Ebene, in den häufig ÖVP-geführten Gemeinden, gebe es „ein Interesse, die Gegensätze nicht noch zu verstärken“, und die Neuankömmlinge in Arbeit zu bringen. Leider spiegle sich das auf gesamtstaatlicher Ebene nicht wider.

Debatte rund um Flucht & Migration „geschichtslos“

Die Debatte in Österreich rund um Flucht und Migration sei in doppelter Hinsicht „geschichtslos“. Zum einen werde vergessen, dass Österreich während des Ungarn-Aufstands 1956, während des Prager Frühlings 1968 und während der Jugoslawien-Kriege in den 90ern stark vom System der internationalen Flüchtlingsweiterleitung profitiert habe. Zum anderen werde die Erfahrung der Aufnahme und Integration der Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien - vor allem aus Bosnien - zu wenig beleuchtet. Ther weist zwar darauf hin, dass man „Bosnier nicht mit Menschen aus dem arabischen Raum gleichsetzen“ könne. „Aber vielleicht kann man sich dennoch auf diese positiven Erfahrungen zurückbesinnen, um den Menschen etwas die Ängste zu nehmen, und das Potenzial der Menschen, die gekommen sind, besser zu nutzen.“ Geschichte könne auch dabei helfen, die Wiederholung vergangener Fehler zu vermeiden. So habe man für die ehemaligen Gastarbeiter im Bereich Qualifizierung, Sprachtraining und Sozialprogramme viel zu wenig getan, was dazu geführt habe, dass man „heute zum Teil tatsächlich ein Integrationsproblem“ habe.