UNICEF zieht bitter Syrien-Bilanz

Sieben Jahre nach dem Beginn des blutigen Konfliktes in Syrien ziehen Helfer eine bittere Bilanz: Schon heute haben mehr als 1,5 Millionen Menschen in dem Bürgerkriegsland bleibende seelische oder körperliche Schäden erlitten.

Über die Hälfte der Bevölkerung lebt entweder als Flüchtling im Ausland oder ist innerhalb Syriens vertrieben worden. Wie aus einem gestern veröffentlichten Bericht des UN-Kinderhilfswerkes (UNICEF) hervorgeht, gibt es in Syrien bereits heute 86.000 Menschen, denen als Folge des Krieges Gliedmaßen amputiert werden mussten. Und ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht.

Schätzungen gehen von mehr als 500.000 Toten aus

Im dem Bürgerkrieg kamen seit Ausbruch des Konflikts Aktivisten zufolge mehr als 350.000 Menschen ums Leben. Unter den Opfern seien mehr als 105.000 Zivilisten, meldete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Enthalten in diesen Zahlen sind demnach nur Opfer, deren Tod belegt ist. Die tatsächliche Zahl der Toten sei deutlich höher und liege Schätzungen zufolge bei mehr als 500.000.

Konflikt seit 15. März 2011

Der Konflikt hatte am 15. März 2011 mit Demonstrationen in der Hauptstadt Damaskus und anderenorts begonnen. Die Spannungen eskalierten, als die Regierung mit Gewalt gegen die Proteste vorging.

Kinder haben Angehörige verloren

UNICEF warnte, der fehlende Zugang zu guter medizinischer und psychologischer Behandlung führe oft dazu, dass sich Kriegsversehrte aus Syrien langsamer von ihren Verletzungen erholten oder sich ihr Zustand sogar verschlechtere. Viele Kinder hätten Angehörige verloren. Daher fehle oft auch eine enge Bezugsperson, die sich um sie kümmern könne. „Wir schätzen, dass als Folge dieses Krieges schon jetzt etwa 750.000 Kinder mit Behinderungen leben müssen“, sagte Geert Cappelaere, UNICEF-Regionaldirektor für Nahost und Nordafrika.

Situation der Kinder verschlimmert

Die Situation der Kinder hat sich laut UNICEF im siebenten Kriegsjahr noch einmal verschlimmert. „Wir dachten, dass der Tiefpunkt der Unmenschlichkeit in Aleppo erreicht worden wäre“, sagte der Geschäftsführer von UNICEF-Deutschland, Christian Schneider. Doch die Lage der Zivilisten in dem belagerten Gebiet Ost-Ghouta sei noch schlimmer als das, was Helfer 2016 in der Großstadt Aleppo erlebt hätten. Von den 200.000 Kindern, die dort mit ihren Eltern ausharren müssten, seien inzwischen 40 Prozent chronisch unterernährt.

400.000 Menschen in Ost-Ghouta von Außenwelt ausgeschlossen

Die UNO rief gestern dazu auf, mehr als 1.000 Kranke und Verletzte so schnell wie möglich aus Ost-Ghouta zu bringen. Sie bräuchten dringend eine medizinische Behandlung, erklärte die Sprecherin des UN-Nothilfebüros Ocha in Syrien, Linda Tom. Das Gebiet nahe der Hauptstadt Damaskus erlebt seit mehr als drei Wochen die schlimmste Angriffswelle der syrischen Regierung seit Ausbruch des Bürgerkriegs. Nach Angaben von Aktivisten kamen in dieser Zeit mehr als 1.000 Zivilisten ums Leben. In dem belagerten Gebiet sind rund 400.000 Menschen von der Außenwelt abgeschlossen.

Bewaffnete schossen auf Demonstration

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete, die Regierungstruppen hätten mittlerweile rund 60 Prozent von Ost-Ghouta wieder unter Kontrolle gebracht. Regierungstreue syrische Medien berichteten, das verbliebene Rebellengebiet sei in drei voneinander getrennte Teile aufgespalten worden. Nach Angaben der Menschenrechtler schossen Bewaffnete gestern auf eine Demonstration in dem von Rebellen kontrollierten Ort Kafr Batna und töteten mindestens einen Menschen. Bei dem Protest hätten mehr als 700 Menschen gefordert, einen Ausgleich mit der Regierung zu suchen, um das Blutvergießen in dem Ort zu beenden. Regierungstruppen und Rebellen werfen sich gegenseitig vor, den Abzug von Zivilisten aus Ost-Ghouta zu verhindern.

In Ost-Ghouta leben rund 400.000 Menschen. Die Rebellen-Enklave wird seit Jahren von Regierungstruppen belagert. Viele Einwohner hatten sich an Protesten gegen Präsident Bashar al-Assad beteiligt, die sich 2011 zum Bürgerkrieg ausgeweitet hatten.

Minderjährige werden in den Kampf geschickt

UNICEF zufolge schickten die Konfliktparteien 2017 mindestens rund 900 Minderjährige in den Kampf. Ein Viertel der „Kindersoldaten“ war jünger als 15 Jahre. UNICEF erfuhr im gleichen Zeitraum von 244 Kindern, die festgenommen wurden. Cappelaere betonte: „Jede einzelne Konfliktpartei ist an diesen massiven Kinderrechtsverletzungen beteiligt.“

Zivilisten fliehen aus Afrin

Unterdessen rücken die türkischen Streitkräfte im Nordwesten Syriens weiter auf die kurdisch kontrollierte Stadt Afrin vor. Hunderte Zivilisten versuchten aus Afrin zu fliehen, teilte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, am gestern mit. Rund 2.000 Zivilisten hätten bereits Zuflucht im Nachbarort Nubul gefunden. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte am Wochenende erklärt, Afrin und danach Manbij, Kobane und weitere Orte würden „von Terroristen gesäubert“. Die Türkei geht seit Jänner in der Region Afrin militärisch gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) vor, die sie wegen ihrer engen Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als Bedrohung empfindet.