„Können wir uns heute auf unsere Demokratie verlassen?“

Mit einer von Ö1 live übertragenen Matinee wurde gestern Vormittag im Wiener Burgtheater der Reigen an Gedenkveranstaltungen zum „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland vor 80 Jahren fortgesetzt.

Nach Lesungen zeitgenössischer Schilderungen der damaligen Ereignisse, stand in einer Diskussion die Frage im Mittelpunkt: Können wir uns heute auf unsere Demokratie verlassen?

„Was wir heute tun, muss uns klar sein“

Eingangs erinnerte Burgtheater-Direktorin Karin Bergmann an die zahlreichen Gedenkveranstaltungen ihres Hauses, die 1988 zum 50. Jahrestag des „Anschlusses“ abgehalten wurden und die in den Premieren von Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ und Thomas Bernhards „Heldenplatz“ gipfelten. Seit damals habe ein neues Narrativ die einstige Opferthese zumindest relativiert. „Der Blick auf die Vergangenheit kann unsere Wahrnehmung der Gegenwart schärfen. Wir wissen nicht, was wir damals getan hätten, aber was wir heute tun, muss uns klar sein“, so Bergmann.

„Es war eine Walpurgisnacht!“

Die Burgschauspieler Elisabeth Orth, Marie-Luise Stockinger, Branko Samarovski und Sebastian Wendelin lasen aus von Rita Czapka und Claudia Kaufmann-Freßner zusammengestellten Texten von Carl Zuckmayer, Stefan Zweig, Stella Kadmon, Hilde Spiel und anderen Zeitzeugen. Hugo Brainin (Jahrgang 1924), der selbst als 13-Jähriger den Einmarsch erlebte und wenige Monate später mit einem Kindertransport nach Großbritannien entkommen konnte, erinnerte in einem Statement an die Vorgeschichte des „Anschlusses“, an den Bürgerkrieg 1934 und den autoritären Ständestaat, der seine politischen Gegner in Lager schickte. Die Ereignisse der Iden des Märzes 1938 fasste er so zusammen: „Es war eine Walpurgisnacht!“

„Damals waren es die Juden, heute sind es die Ausländer“

Für Brainin ist die wichtigste Botschaft der damaligen Ereignisse die Schärfung der Wachsamkeit für alle antidemokratischen Entwicklungen. „Damals waren es die Juden, heute sind es die Ausländer. Es ist dieselbe Geisteshaltung.“ Der in diesem Zusammenhang „bewusst geschürten Hysterie müssen verantwortungsbewusste Politiker entgegentreten“.

„Wie erkennen wir als Gesellschaft, ob wir dieser Hummer sind?“

Das eingängigste Bild dafür fand in der anschließenden, von Renata Schmidtkunz moderierten Diskussion, an der neben Brainin u.a. die tschechische Soziologin Alena Wagnerova, der Verfassungsrichter Christoph Grabenwarter und der Historiker Oliver Rathkolb teilnahmen, die Medienjournalistin Ingrid Brodnig. Sie zog einen Vergleich mit der Tötung eines Hummers durch siedendes Wasser, die am widerstandslosesten gelänge, wenn man ihn zunächst in lauwarmes Wasser gäbe und die Temperatur langsam erhöhe. „Wie erkennen wir als Gesellschaft, ob wir dieser Hummer sind?“

„Das Wasser wird deutlich wärmer“

„Das Wasser wird deutlich wärmer“, gab Rathkolb zu bedenken. Bei Umfragen hätte sich die Zahl jener, die nichts gegen eine autoritäre Führung des Staates hätten, in den vergangenen zehn Jahren deutlich erhöht. 2017 habe diese Zahl 23 Prozent gelegen, „und wenn ich eine sanftere Frage stelle, komme ich locker auf 40 Prozent“.

Wichtige Rolle der unabhängigen Medien

Einig zeigte man sich, dass funktionierende demokratische Institutionen inklusive einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit ebenso wie ein ausgewogenes soziales Gefüge bei großer sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit die stärksten Garanten der Demokratie darstellten. Dabei spielten unabhängige Medien eine wichtige Rolle, betonte Brodnig, die deutliche Anzeichen der zunehmenden Diskreditierung journalistischer Arbeit als demokratische Kontrollinstanz sah.

Toninstallation am Heldenplatz

Zum Abschluss der vom Burgtheater in Zusammenhang mit dem Haus der Geschichte Österreich, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, dem Radiosender Ö1 und der für die heute um 18.00 Uhr startende „Zeituhr“ verantwortlichen filmbakery durchgeführten Veranstaltung gab es einen Vorgeschmack auf jene Toninstallation von Susan Philipsz, die heute um 12.30 Uhr erstmals am Heldenplatz erklingen wird und dann bis 12. November täglich zweimal zu hören sein wird.