Migrationsforscherin Judith Kohlenberger
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„Fluchtparadox“

Kohlenberger zeigt Widersprüche im Asylregime auf

Komplexe Themen eignen sich besonders gut zur Instrumentalisierung. Dass das Thema Flucht und Migration nicht nur komplex, sondern auch von zahlreichen Widersprüchlichkeiten geprägt ist, die eine Lösung der Flüchtlingsfrage geradezu verunmöglichen, zeigt die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger in ihrem neuen Buch „Das Fluchtparadox“ auf.

Eindringlich plädiert sie darin für eine menschlichere Asylpolitik, die nur durch (gegenseitiges) Verständnis erreicht werden kann.

Asyl-, Flüchtlings- und Integrationsparadox

Das „Fluchtparadox“ besteht laut Kohlenberger im Wesentlichen aus drei Paradoxien: Dem Asyl-, dem Flüchtlings- und dem Integrationsparadox und „vielen paradoxen Momenten dazwischen“. Am bekanntesten und problematischsten ist wohl das „Asylparadox“ – um einen Asylantrag stellen zu können, muss man in den allermeisten Fällen zuerst einmal Recht brechen, sprich, illegal Grenzen überqueren. Das wiederum erleichtert die Kriminalisierung von Flüchtenden. Doch Möglichkeiten, legal einen Antrag auf Asyl zu stellen (etwa Botschaftsasyl), sind bekanntermaßen nach wie vor inexistent.

„Das Fluchtparadox“ von Migrationsforscherin Judith Kohlenberger
Verlag Kremayr & Scheriau

Judith Kohlenberger: „Das Fluchtparadox. Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2022, 240 Seiten, 24 Euro. ISBN 978-3-218-01345-1

Universelles Recht vs. nationalstaatliche Interessen

Zentral im Asylparadox ist die bisherige Unvereinbarkeit des universellen, überstaatlichen Anspruches von internationalem Recht (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK, Genfer Flüchtlingskonvention – GFK) mit nationalstaatlichen Interessen, wobei sich letztere meist durchsetzen. Im Kern sei das Asylparadox damit eigentlich ein „demokratisches Paradox“, konstatiert Kohlenberger. Geflüchteten werde „das Recht, Rechte zu haben“, abgesprochen, schreibt die Migrationsforscherin der Wirtschaftsuniversität Wien unter Verweis auf Hannah Arendt. Sie müssen sich den (rechtlichen) Rahmenbedingungen des Aufnahmestaates unterwerfen, haben aber im Normalfall aufgrund der fehlenden Staatsbürgerschaft nicht die Option, diese mitzugestalten.

„Gefahr für die Autochthonen“

An die daraus resultierende Trennung „Wir vs. die Anderen“ knüpfen das Flüchtlings- und Integrationsparadox gleichermaßen an. Zwar soll uns der/die Flüchtende ähnlich sein, aber nicht zu ähnlich (erfolgreich) werden, besagt das „Integrationsparadox“ laut Kohlenberger. Zu schnell könne er sonst zur „Gefahr für die Autochthonen“ werden, den Einheimischen Arbeitsplätze oder Macht „wegnehmen“. Damit einher geht die zentrale Erzählung des „Flüchtlingsparadoxes“: Flüchtende sollen und müssen vulnerabel und schutzbedürftig (passiv) sein, gleichzeitig aber auch aktiv, selbständig und leistungsbereit (vor allem mit Blick auf Integration).

Unterschiedlicher Umgang mit Geflüchteten

Im Zuge der Entschlüsselung der drei Paradoxien thematisiert Kohlenberger nicht nur die unzähligen Herausforderungen und Probleme des Themas Flucht und Migration, wie eben das instrumentalisierte Narrativ der Anderen, Rassismus, oder das bewusst in Kauf genommene Fehlen legaler Migrationswege. Sie beschreibt auch den unterschiedlichen Umgang mit Geflüchteten im Sommer 2015 vs. Frühjahr 2022 (Ukraine-Krieg), deckt auf, warum mehr Abschottung und Grenzschutz oftmals zu vermehrten Fluchtbewegungen und/oder der Verlagerung auf gefährlichere Routen führt, widerlegt die These der „Massenzuwanderung aus Afrika“ und zeigt auf, wie wichtig Zuwanderung und migrantische Arbeitskräfte für westliche Länder eigentlich sind.

Notwendige „Humanisierung des Anderen“

So gelingt es der Migrationsexpertin auf fundierte, verständliche Art und Weise, der Leserin und dem Leser das höchst vielschichtige Thema mit seinen unzähligen Widersprüchen näherzubringen, zu entschlüsseln und damit zu einer tieferen Wahrheit zu führen. Nur durch besseres Verständnis für die Thematik und Verständnis für „die Anderen“, das zu einer dringend notwendigen „Humanisierung des Anderen“ führt, ist die von Kohlenberger geforderte menschlichere Asylpolitik möglich. Die Erzählung könnte lauten: „Österreich kann zeigen, was es kann. Eingebettet in ein sicheres und humanes Europa, das sich geeint in Fragen der Migrations- und Asylpolitik zeigt und Ankommende als Chance statt als Bedrohung begreift, darf es Schutzsuchenden helfen.“