Ondrej Cikan und Anatol Vitouch
orf | pavla rašnerová
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Poesie

„Mai ist unser Faust, nur leidenschaftlicher“ | Ondřej Cikán

Mit dem österreichisch-tschechischen Dichter und Übersetzer Ondřej Cikán werden wir im aktuellen Magazin Radio Dráťák vor allem über seine Übersetzungsverfahren der neuesten deutschen Ausgabe des lyrisch-epischen Poesiestück „Mai“ reden.

„Ich wollte es meinen österreichischen Mitschüler/innen nahebringen, aber es ging nicht so gut, weil die bisherigen deutschen Übersetzungen nicht wie das Original funktionierten. Und so sagte ich mir, ich muss das Gedicht irgendwann selbst übersetzten“, erinnert sich Cikán.

Radio Dráťák Magazin

13.4.2020 | 21:10 | Radio Burgenland Livestream

Bald wird der Räuberführer hingerichtet. Er rächte sich durch Mord für Verführen seiner Geliebten. Er verabschiedet sich von der Erde mit atemberaubenden Bildern. Mit lyrischem Blick kann man das Gedicht „Mai“ als eine persönliche Existenz-Beichte seines Autors Karel Hynek Máchas selbst betrachten.

Auch die neueste Ausgabe von Dráťák verläuft im Sinne der Literatur. „Byl pozdní večer – první máj – večerní máj – byl lásky čas | Es war spät Abend – erster Mai – ein Maiabend – die Zeit der Liebe." Sicherlich haben Sie die beginnenden Verse des Gedichtes über Liebe und Tod „Mai“ vom tschechischen romantischen Dichter Karel Hynek Mácha (1810-1836) erkannt.

Das Liebesepos erschien heuer im März im Deutschen und zwar im österreichisch-tschechischen Kētos-Verlag. Es geht aber nicht um eine seiner nächsten Übersetzungen, dem Dichter Ondřej Cikán (*1985) ist es als ersten Künstler überhaupt gelungen, „Mai“ sowohl mit brillanter Präzision des Inhalts, als auch mit natürlicher Erhaltung seiner Lautmalerei ins Deutsche zu übersetzen.

Faszination von „Mai“ schon seit der Kindheit

Manche von uns trafen „Mai“ schon als Kinder in der Volksschule. Cikán war hier keine Ausnahme:

Karel Hynek Mácha | Mai

(Máj, 1836)

übersetzt und mit Nachwort versehen von Ondřej Cikán
illustriert von Antonín Šilar
März 2020
160 Seiten
Hardcover mit Fadenbindung und Lesebändchen
EUR 20 | CZK 320

ISBN: 978-3-903124-09-7

„Máchas ‚Mai’ hat mich schon als kleinen Buben gefesselt, als wir die ersten Verse in der vierten Klasse hier in der tschechischen Volksschule in Wien auswendig gelernt haben. Damals hat mich vor allem Lautmalerei und Eindrucksvolligkeit der verschiedenen Rhythmen, Alliterationen und der dichterischen Bilder begeistert.“

Cikán spricht weiter: „Danach, am österreichischen Gymnasium, in der Pubertät, war ich vor allem von der Leidenschaftlichkeit des ‚Mai’ begeistert. Plötzlich hab ich begriffen, wie das Gedicht jemanden ordentlich zum Heulen bringen kann. Ich wollte ‚Mai’ meinen österreichischen Mitschüler/innen nahebringen, aber es ging nicht so gut, weil die bisherigen deutschen Übersetzungen nicht genauso wie das Original funktioniert haben und deswegen habe ich mir gesagt, dass ich das Gedicht einmal selbst übersetzen muss. Vorher musste ich aber lernen, wie man Gedichte schreibt und mit Versen umgeht.“

Mai Karel Hynek Macha Ondrej Cikan Ketos Romantismus Romantisches Liebesepos
kētos verlag

„Mais haben wir wie Heu“

Ondřej Cikán ist auch Verleger. Nicht nur „Máj“, sondern auch andere Bücher des Kētos-Verlags kann man in allen Internetbuchhandlungen und auch selbstverständlich direkt über den Verlag selbst bestellen.

„Eine missglückte Übersetzung kann den Ruf eines Dichters langfristig beschädigen“ | O. Cikán

Übersetzungen von „Mai“ würden wir in deutscher Variation gleich mehrere finden, jedoch nur Ondřej Cikán gelang es ihn deutschsprachigen Leser/innen glaubhaft vorzustellen und das dank der Übernahme der Freiheit des Originals und Verwendung verschiedener Abwechslungen von Jamben. Nur so konnte er lautmalerisch übersetzen und Mácha inhaltlich spiegeln. Seine Übersetzung klingt bestimmt nicht wie „eine langweilige Nähmaschine“ – wie Cikán selbst den regelmäßigen Rhythmus der früheren Übersetzungen von „Mai“ bezeichnete.

„Die Übersetzung in fremde Sprachen ist sehr verwunschen. Der ‚Mai’ wurde meistens nicht von Dichtern übersetzt, sondern von Bohemisten und teilweise auch von tschechischen Enthusiasten, die die Zielsprache nicht zur Genüge beherrscht haben. Die Begeisterung ist lobenswert, aber eine schlechte Übersetzung kann die Reputation eines Dichters für lange Zeit beschädigen“, sagt der vielseitige Künstler Ondřej Cikán.

Mai Romantisches Liebesepos Ondrej Cikan
antonín šilar | kētos verlag
Cikáns Übersetzung von Mai wurde vom Prager Theater- und Filmenbühnenbildner Antonín Šilar illustriert. „Máchas Porträt stellte er so dar, dass er einen ordentlichen bärtigen Kerl malte, einen Räuber, Revolutionär, dem bestimmt Testosteron nicht fehlt“ beschreibt Cikán Šilars Werk

Verbindung des „Mai“ und der österreichischen Hymne

Wie ich mich von Ondřej belehrt habe lassen, war der erste Übersetzer eines Teils von „Mai“ ins Deutsche der kroatische Volksdichter Petar Preradović (1818-1872), der Großvater der Dichterin Paula Preradović (1887-1951), die man ganz leicht mit der österreichischen Hymne verbinden kann, derer Text gerade von ihrer Feder stammt. „Mai“ hat deswegen bestimmt auch eine Verbindung mit Österreich.

Ondrej Cikan
orf

Beliebtheit und Bedeutung „Mais“ hinter der Grenze

Das Liebesgedicht „Mai“ des tschechischen Romantismus wurde schon in viele Sprachen übersetzt, zum Beispiel auch ins Bengali oder Esperanto. In deutschsprachigen Ländern wurde Máchas Schaffen schon in der Vergangenheit positiv angenommen, wie aber auch Cikán erwähnt: „Inzwischen hat man ihn hier eher vergessen.“ Warum ist aber „Mai“ generell auch hinter der tschechischen Grenze so beliebt?

„Das Lesen einen solchen Epos führt zuerst zu Tränen, aber dann zu einer richtigen Katharsis und Enthusiasmus“, beschreibt der Gast des aktuellen Radio Dráťák eigene Gefühle vom Werk der tschechischen Romantik.

„‚Mai’ sollte man als Teil der Weltliteratur und als Hauptwerk der Weltromantik wahrnehmen und gleichzeitig wegen seiner Vorstellungskraft auch als Vorläufer der modernen Poesie. ‚Mai’ hat gründlich auch tschechische Symbolisten und Poetisten beeinflusst. Dank dem ‚Mai’ war und ist die tschechische Poesie so, wie wir sie kennen. Man spürt Liebe zur Sprache, zu ihrer Tonalität und auch zu allegorischen surrealen Bildern aus ihr“, antwortet Cikán.

Ondrej Cikan und Anatol Vitouch
orf | pavla rašnerová
Ondřej Cikán und Anatol Vitouch während der Lesung von der Übersetzung „Krvavý román/ Der blutige Roman“ Josef Váchals im Tschechischen Zentrum Wien, April 2019

Die Corona-Krise zieht auch Literatur mit runter

„Eine Belehrung von dieser Pandemie ist auch die Tatsache, dass wenn einige Menschen gerade genug freie Zeit haben, dann bedeutet das nicht automatisch, dass sie Bücher kaufen würden. Sie schauen wahrscheinlich eher Fernsehserien“, bewertet Cikán.

Die Coronavirus-Krise betraf einige Bereiche und leider gehört auch die Kultur dazu.

„Das Frühlingsprogramm 2020 wurde von meinem Verlag Kētos mit einem großen Vorsprung vorbereitet. Wir sollten gegen zwanzig Lesungen halten, unter anderem neun auf der Leipziger Buchmesse. Letztes Jahr habe ich vom Minimum gelebt und dieser Frühling sollte das Jahr 2019 zurückfinanzieren. Es ist sehr deprimierend auch für unsere Dichter/innen“, beschreibt Ondřej Cikán die Situation der gegenwärtigen Kulturszene.

„Máj je náš Faust, akorát vášnivější“ | Ondřej Cikán | Rádio Dráťák | 13.4.2020 (Artikel auf Tschechisch)

Das Magazin Radio Dráťák wird jeden Montag um 21:10 auf Radio Burgenland ausgestrahlt. In der aktuellen Sendung werden Sie den Dichter und Übersetzer Ondřej Cikán hören.