Radio Dráťák | Jiří Holý | „Zwischen Philo- und Antisemitismus
On demand | Radio Dráťák | 14.1.2019
orf | pavla rašnerová
Radio Dráťák Magazin
14.01.2019 | 21:10 | Radio Burgenland Livestream
Chronik der Böhmen | Die ersten Erwähnungen
Juden lebten schon seit dem frühen Mittelalter auf heute tschechischem Gebiet. Die ersten literarischen Erwähnungen über sie kommen aus der Zeitperiode des 12. Jahrhunderts und zwar ist ein bedeutender Nachlass darüber in der Chronik der Böhmen/ Kosmova kronika zu finden, in der verschiedene Einblicke in das Leben der jüdischen Bevölkerung zu erlangen sind. „Kosmas von Prag lebte in der Zeit nach dem Vierten Laterankonzil und der Kreuzzüge, als eine Widerstandswelle gegen Juden in Europa entstand. Sie wurden der Kreuzigung Jesu Christi beschuldigt und auch wenn das schon vor tausend Jahren geschah, die kollektive Schuld an dieses angebliche Verbrechen hängte immer über ihnen. Sie wurden verfolgt und dies spiegelt sich z.B. auch in der Chronik der Böhmen wieder. Auf der anderen Seite findet man in ihr auch einige neutrale oder positive Erwähnungen“, erzählt der Literaturwissenschaftler Jiří Holý.
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Exotische Outsider vs. raffinierte Betrüger
Der renommierte Literaturwissenschaftler Jiří Holý beschäftigt sich vor allem mit der tschechischen Literatur des 20. Jahrhunderts, mit Holocaust in der mitteleuropäischen Literatur, jüdischen Motiven in der tschechischen Literatur und nicht zuletzt mit tschecho-deutschen und tschecho-österreichischen Kulturbeziehungen. Im Jahre 2017 wurde er mit der Karel Čapek Medaille ausgezeichnet.
Auch in der neueren Literatur sind nach Holý diese zwei Richtungen wahrzunehmen: „Z. B. Mácha und Romantiker nehmen die Juden eher positiv als exotische Outsider wahr, die verfolgt werden und die keinen eigenen Staat haben. Auf der anderen Seite taucht vor allem im 19. Jahrhundert ein Bild der ländlichen Juden auf, die das tschechische Volk aussaugen und die Bauern mit raffinierten Praktiken berauben. Dies finden wir auch bei ziemlich bekannten Autoren wie z. B. Josef Holeček oder Vilém Mrštík und auch bei einigen katholischen Autoren.“
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Juden als Symbol des Unrechts
Der Zeitraum des Kommunismus in der Tschechoslowakei hatte, was Abbildung der Juden in Literatur betrifft, verschiedene Phasen: „In den 1950er Jahren schrieb man über Juden fast nie. Wenn über Konzentrationslager geschrieben wurde, dann waren das Konzentrationslager ohne Juden, auch wenn die Mehrheit der Juden dort aufgrund ihrer religiösen Herkunft verfolgt wurde. Das änderte sich dann in 1960er Jahren, als das Thema der Juden und des Holocausts eines der deutlichsten in der tschechischen Literatur und im Film wurde. Wir alle kennnen Bücher von Ladislav Fuks, Arnošt Lustig oder Josef Škvorecký oder Filme wie ‚Das Geschäft in der Hauptstraße/ Obchod na korze’, ‚Der Leichenverbrenner/ Spalovač mrtvol’ oder ‚Demanten der Nacht/ Démanty noci’. Sie zeigten das Schicksal der Juden wie etwas, was eigentlich eine Parallele zum kommunistischen Unrecht ist. Juden waren auf einmal auch ein Symbol des allgemeinen Unrechts“, erklärt Holý Ähnlichkeit mit der Verfolgung der Gegner des kommunistischen Regimes.
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Nach dem Jahr 1967, nach dem arabisch-israelischen Krieg, beginnt man Israel als Feind zu betrachten und die Beziehung der Tschechoslowakei zu dem Land wurde zerrissen. Alles ändert sich erst nach dem Jahre 1989, als das Interesse an Judentum in den Vordergrund gerät.
Nummer auf Ellbogen und verbotene Literatur
In der gegenwärtigen Literatur würden wir gleich ein paar Schriftstellerinnen und Schriftsteller finden, in deren Werken jüdische Gestalten auftauchen, auch wenn es nicht mehr so viele gibt. Einer von ihnen ist z. B. auch Jáchym Topol, der aus keiner jüdischen Familie stammt, „aber oft zu jüdischen Themen zurückkehrt. Er schrieb darüber, wie seine Lehrerin am Gymnasium ihn inspirierte. Sie als die Einzige erzählte tapfer von der untersagten Literatur und die Schüler/innen merkten, dass sie eine eintätowierte Nummer auf ihrem Ellbogen hat und sie scherzte, dass es um eine Telefonnummer geht“, sagt Holý.
„Wir müssen zwischen kulturellen Stereotypen und Konventionen und wirklicher antijüdischer Denkart unterscheiden“, mahnt der Literaturwissenschaftler Jiří Holý, dessen Publikation „Cizí i blízcí – Židé, literatura, kultura v českých zemích ve 20. století/ Fremd und doch vertraut - Juden, Literatur, Kultur in tschechischen Ländern im 20. Jh.“ im Jahre 2016 zusammen mit einem Autoren/innenkollektiv erschien. Es handelt sich bisher um die umfangreichste und tiefschürfendste Bearbeitung dieses Themas.
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Die Interviews mit den Wissenschaftlern Jiří Holý und Petr Janeček können Sie im Magazin Radio Dráťák am 14.1.2019 live anhören. Sie wurden für Sie von Pavla Rašnerová aufgenommen und vorbereitet. Durch die Sendung begleitet Sie Tereza Chaloupková.
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