1918 für Nationalitäten und Minderheiten keine Befreiung

Nationalisten nannten die Donaumonarchie einen „Völkerkerker“. Was mit dem Ende des Ersten Weltkrieges entstand, waren dann „Vielvölker-Staaten“ statt eines Vielvölkerreichs. Das ebnete für viele Nationalitäten in weiten Teilen Europas, besonders für die jüdische Bevölkerung, den Weg in die Katastrophe, zeigen Aussagen bei der Sommerakademie des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs.

Donaumonarchie Wappe

Hugo Gerard Ströhl

Wappen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie | 1915 - 1918

Das Institut organisierte von 3. bis 6. Juli zum 28. Mal seine Sommerakademie, die sich jeweils spezifischen Aspekten der jüdischen Geschichte in Österreich widmet. 2017 war das Thema die - zumindest zu Beginn durchaus patriotisch-begeisterte - Teilnahme Menschen jüdischer Abstammung am Ersten Weltkrieg an allen Fronten gewesen. In den vergangenen Tagen ging es unter dem Titel „Verwischte Grenzen - Jüdische Identitäten in Zentraleuropa nach 1918“ um die Nachfolgegeschichte zwischen 1918 und 1938.

Mit Überleben beschäftigt

„1918 und danach. Vom Vielvölkerreich zu Vielvölker-Staaten“, betitelte der renommierte aus den Niederlanden stammende Historiker Pieter M. Judson seinen Eröffnungsvortrag. Man hätte auf der Seite der Vertreter des Nationalismus den Zusammenbruch der Habsburger-Monarchie als Gründungsmoment neuer, demokratischer Staaten im Sinne einer nationalen Emanzipation und als Überwindung des alten „Völkerkerkers“ gefeiert.

Die Realität sei aber für die meisten Menschen in den Nachfolgestaaten eine andere gewesen, betonte der Historiker. „In den Dörfern, in den Kleinstädten und auf dem Land war man Ende 1918 vor allem mit den Überlebensfragen beschäftigt. Da waren Hunger, Obdachlosigkeit und Gewalt. Paramilitärische Einheiten töteten Zivilisten. Zivilisten organisierten Pogrome gegen ihre jüdischen Mitbürger.“ Die Verfechter der neuen Nationalstaaten und der nationalen Emanzipation seien wohl nur in einer dünnen Schicht der Bevölkerung der Hauptstädte zu finden gewesen.

Darüber hinaus waren die in der Folge der Friedensschlüsse von Versailles, St. Germain und Trianon entstandenen Nachfolgestaaten zumeist keineswegs „Nationalstaaten“. Vom Königreich Jugoslawien mit Slowenen, Serben und Kroaten konnte man das nicht behaupten. „In der neu gegründeten Tschechoslowakei gab es überhaupt keine Mehrheitssprache“, sagte Judson. Rumänien und Polen und andere Länder waren ebenso Vielvölker-Staaten. Das galt auch für Ungarn. Die „nationale Emanzipation“ war bestenfalls eine propagandistische Fiktion - und die neuen Demokratien standen auf tönernen Füßen.

Für Minderheiten wurde es eng

Im Endeffekt dürfte der nach dem Ersten Weltkrieg in Mittel-, Ost- und Südosteuropa erreichte Status erst die Entwicklung zu den horriblen Massenmorden und Deportationen - zum größten, aber nicht alleinigen Teil durch das nationalsozialistische Regime Adolf Hitlers und die Sowjetunion unter der Herrschaft von Josef Stalin - gefördert haben. Für Minderheiten wurde es immer enger.

„Die neuen und erweiterten Nationalstaaten verhielten sich wie kleine Imperien. Die Angehörigkeit zu einer Nationalität (auch zu einer jüdischen Abstammung; Anm.) wurde von einem freiwilligen Merkmal in der Habsburger-Monarchie zu einem objektiven Merkmal“, sagte bei der Sommerakademie des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs der niederländische Historiker Pieter M. Judson. Während in der Monarchie der Habsburger ab den Staatsgrundgesetzen von 1867 bloß Loyalität zum Herrscherhaus gefragt war und Herkunft und religiöses Bekenntnis für die allgemeinen Recht unerheblich waren, wurden Abstammung und Religion nach 1918 plötzlich um überragenden Merkmal der Bürger einzelner Staaten und konnten zu jedweder Diskriminierung und noch weitaus Schlimmerem ausgenützt werden.

Besonders arg wurde es für die Menschen jüdischer Abstammung. Es nützte den westungarischen Juden geschichtlich nichts, dass sie bei der Volksabstimmung des Jahres 1921 über das Schicksal von „Ödenburg und Umgebung“ für die Republik Österreich stimmten. Die zunehmende Assimilation in den ehemaligen Kronländern verhinderte in der Zwischenkriegszeit nicht den um sich greifenden und immer radikaler werdenden Antisemitismus auch in Mittel- und Osteuropa.

Makelhafte Herkunft

Zwischen allen Nationalitäten und politischen Bewegungen wurde die jüdische Bevölkerung Europas schließlich Opfer des Nationalsozialismus. Stalin, der mit Adolf Hitler bei der Besetzung und neuerlichen Aufteilung Polens kooperierte, deportierte und/oder ermordete Millionen Russen, Weißrussen, Ukrainer und viele andere Nationalitäten, verriet den polnischen Widerstand und entfesselte nach dem Zweiten Weltkrieg in der UdSSR und in den Ostblockstaaten erneut Antisemitismus. Für viele Menschen aus der ehemaligen Habsburger-Monarchie und der umgebenden Regionen und deren Nachkommen war 1918 jedenfalls kein Aufbruch in eine bessere Zukunft.

Im Tagungsheft schildert Historikerin Kristina Schierbaum in ihrem Beitrag „Jüdische Identitäten in Polen“ die Geschichte der Familie von Hirsz Goldszmit in Polen über drei Generationen hinweg. Die Familie entfernte sich immer mehr vom (orthodoxen) Judentum, machte einen sozialen Aufstieg durch und wollte im nach mehr als 120 Jahren neu erstandenen polnischen Staat nach 1918 vor allem friedlich leben, zur Zukunft des Landes beitragen. In dritter Generation erlangte der jüdisch-stämmige Schriftsteller, Arzte und Pädagoge Janusz Korczak (er hatte seinen Namen von Henryk Goldszmit „polonisiert“) nach dem Zweiten Weltkrieg traurigen Weltruhm. Korczak aus der Goldszmit-Familie war jener Pädagoge, der im Sommer 1942 als Leiter des Waisenhauses „Dom Sierot“ in Warschau darauf bestand, seine Schützlinge auf der Deportation durch die SS in das Vernichtungslager Treblinka zu begleiten. Dort wurde er mit ihnen am 6. oder 7. August in den Gaskammern ermordet.

Doch egal, was die späteren Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus in Mittel- und Osteuropa auch taten, der „Makel“ ihrer Herkunft haftete ihnen gerade ab dem Ende des Ersten Weltkrieges mehr denn je an. So wurde über Korczak und seine Stellung in Polen geschrieben: „Er war allen fremd, wenn er auch überall als ein achtbarer Ausländer respektiert wurde. Die Polen aus dem nationalen und klerikalen Lager konnten ihm seine jüdische Herkunft nicht verzeihen. Die nicht Assimilierten sahen in ihm den polnischen Schriftsteller, den Repräsentanten der polnischen Kultur. Die soziale Linke, insbesondere die aktive revolutionäre Jugend, stieß er durch Skeptizismus ab (...). Für die Konservativen war einer Linker (...).“