„Agenda von Bratislava“ | EU will sich zusammenraufen

Nach dem Brexit-Schock, monatelangem Streit um die Flüchtlingspolitik und dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien will die Europäische Union Handlungsfähigkeit beweisen. Die 27 verbleibenden EU-Staaten einigten sich am Freitag ohne Großbritannien auf die „Agenda von Bratislava“ - ein Arbeitsprogramm für die nächsten Monate.

Dem Fahrplan für Reformen müssen nun aber konkrete Fortschritte folgen. Während Kanzlerin Angela Merkel sich optimistisch für die Zukunft der Nach-Brexit-EU zeigte, machten die Regierungschefs Italiens und Ungarns ihrem Unmut Luft.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Meinungen stellte aber nach Worten des deutsche EU-Kommissars Günther Oettinger keiner der 27 Gipfelteilnehmer das EU-Projekt grundsätzlich infrage. „Es hat sich gezeigt, dass bei allen Gegensätzen niemand aus der Europäischen Union raus will, niemand so fundamental auftritt, um die anderen massiv zu brüskieren, auch nicht die (mitteleuropäischen) Visegrád-Staaten“, sagte Oettinger im Deutschlandfunk.

Christian Kern kancler Berlin Angela Merkel Tihomir Orešković Bojko Borisov

sta.si/petelinšek

Merkel betonte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Frankreichs Präsidenten François Hollande: „Der Geist von Bratislava war ein Geist der Zusammenarbeit.“ Alle 27 Staats- und Regierungschefs seien „der Überzeugung, dass wir Kompromisse brauchen, dass wir das Gefühl der Solidarität brauchen, das Gefühl der Zusammenarbeit. Und dass wir auf einer Basis gemeinsamer Werte arbeiten.“

EU-Gipfelchef Donald Tusk sprach aus, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: Die Agenda von Bratislava solle das Vertrauen in die Europäische Union wieder herstellen. Dies könne aber nur gelingen, wenn den Menschen klar werde, dass die EU-Staaten und -Institutionen ihre Versprechen auch umsetzten.

Harsche Kritik kam von Italiens Regierungschef Matteo Renzi: „Ein Schritt vorwärts, aber ein kleiner, sehr kleiner. Zu wenig“, twitterte er. Ein gemeinsamer Auftritt mit Merkel und Hollande nach dem Gipfel sei unmöglich gewesen, weil für ihn das Ergebnis kein Erfolg sei. „Ich teile ihre Schlussfolgerungen nicht“, sagte er.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban tat das Treffen von Bratislava als Misserfolg ab. „Er war insofern erfolglos, als dass es nicht gelungen ist, die Einwanderungspolitik Brüssels zu ändern“, sagte der rechts-konservative Politiker nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur MTI. Griechenlands Regierungschef Alexis Tsipras äußerte sich nach dem Gipfel hingegen optimistisch.

Zum Thema Flüchtlinge sprach der Papst vom Vatikan aus den Politikern ins Gewissen. Flüchtlinge sollten in Europa gastfreundlich aufgenommen werden. Das sei der beste Weg, um Terror vorzubeugen, sagte er am Samstag.

Als Kompromiss im Streit um die Aufnahme von Flüchtlingen schlugen die vier mittelosteuropäischen Länder Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen, die die eigentlich schon beschlossene Umverteilung von Flüchtlingen ablehnen, ein Konzept namens „flexible Solidarität“ vor: wer weniger Flüchtlinge aufnimmt könnte demnach mehr für den gemeinsamen Grenzschutz tun. In Bratislava deutete sich an, dass die Fronten aufweichen. Eine Lösung wird aber frühestens Ende des Jahres erwartet.

Die „Bratislava Roadmap“ steckt die Zeit bis zum 60. Jubiläum der Römischen Verträge im März 2017 ab. Oberste Ziele sind mehr Sicherheit und neue Jobs. Der Fahrplan über den künftigen Weg der Nach-Brexit-EU ist aber nur eine Art Diskussionspapier, denn echte Beschlüsse können nur mit Großbritannien fallen, das bis auf weiteres als volles Mitglied zur EU gehört. Die Briten aber lassen sich mit dem Austritt Zeit, einen offiziellen Termin für den Beginn der Austrittsverhandlungen hat London bisher nicht genannt.

Konkret verabredeten die 27 eine Reihe von Projekten: Die Außengrenzen der EU sollen besser gegen illegale Einwanderung geschützt und der Flüchtlingspakt mit der Türkei umgesetzt werden. Der Aufbau einer gemeinsamen Grenze- und Küstenwache soll beschleunigt werden. Im Kampf gegen den Terror soll der Informationsaustausch verbessert werden. Im Dezember soll eine engere Verteidigungszusammenarbeit beschlossen werden. Auch neue Jobs schreiben sich die 27 auf die Fahnen.

(v.l.) Bundeskanzler Christian Kern trifft den Präsidenten der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker, anlässlich seines Antrittsbesuchs bei der EU-Kommission in Brüssel

APA/BKA/Andy Wenzel

Österreichischer Bundeskanzler Christian Kern und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker stellte kurz nach dem Sondergipfel einen Fahrplan für eine mögliche gemeinsame europäische Verteidigungspolitik vor. „Für die kommenden Monate sehe ich drei konkrete Projekte, auf die wir hinarbeiten sollten: ein gemeinsames Hauptquartier für militärische Operationen, den Einsatz von EU-Battle-Groups in Krisengebieten und einen europäischen Verteidigungsfonds, der unsere Verteidigungsindustrie fördert“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Sonntag). Das mache neben politischem auch wirtschaftlichen Sinn. Durch eine derartige Zusammenarbeit könnten jährlich zwischen 25 und 100 Milliarden Euro eingespart werden.