„Missing Children“ ein Tabuthema

Rund 10.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind in den vergangenen zwei Jahren laut Europol nach ihrer Ankunft in Europa verschwunden.

Die Gründe dahinter und wie man in Österreich und der EU mit dieser Problematik umgeht, war heute Thema einer Enquete des SPÖ-Parlamentsklubs. Eine massive Schwierigkeit bilde u. a. die dünne Faktenlage, sagte SPÖ-Klubobmann Andreas Schieder.

25. Mai ist der Internationale Tag der vermissten Kinder

„Gruppe der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft“

„Es handelt sich um eine Gruppe der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Und als Gesellschaft darf man nicht zulassen, dass so etwas passiert“, stellte Schieder in seiner Einleitung der Enquete „Missing Children“ voran. Immer noch seien Kinder, die auf der Flucht „verschwinden“, ein Tabuthema, zu dem es keine genauen Zahlen gebe. „Vor eineinhalb Jahren wurden 16.000 Kinder vermisst, mittlerweile geht man davon aus, dass die Dunkelziffer viel höher ist“, sagte SPÖ-Bundesrat Stefan Schennach. Allein die Definition eines „vermissten Kindes“ sei schwierig und je nach Staat verschieden. Außerdem sei es ein großer Unterschied, ob es sich um EU-Bürger oder Asylsuchende handelt.

Opfer von Menschenhändlern

Laut Schieder wird etwa ein Drittel der vermissten Flüchtlinge im Kinder- und Jugendlichen-Alter Opfer von Menschenhändlern. Die dringend nötige Harmonisierung der Gesetzgebung in Bezug auf Identifikation und Schutz der geflüchteten Kinder lasse in vielen Europarat-Staaten jedoch stark zu wünschen übrig, kritisierte Schennach: „Der Datenerhebungsmechanismus funktioniert bei 27 der 47 Mitgliedsstaaten nicht. An bestimmten Grenzstationen will man einfach auch keine Identifizierung oder Familienzusammenführung.“ Säumig seien etwa auch Staaten wie Dänemark, Belgien und die Schweiz.

Lücken in Registrierung und Identifizierung

„Die Lücken in der Registrierung und Identifizierung sind ein Einfallstor für kriminelle Machenschaften“, so Schennach. Gefahren bestehen etwa in sexueller Gewalt, Zwangsverheiratung, militärischer Ausbeutung oder Kinderarbeit. Unbegleitete Minderjährige auf der Flucht stellen eine besondere Risikogruppe dar. „Besonders dramatisch ist, dass sich die Anzahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge von 2015 bis 2016 verdoppelt hat“, sagte Astrid Winkler von der Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Rechte der Kinder vor sexueller Ausbeutung (ECPAT). Hier brauche es spezielle, kindgerechte Schutzsysteme und einen funktionierenden Datenaustausch. „Es gibt genug Expertise und theoretische Unterfütterung und ich möchte das Parlament, die alte - oder neue - Regierung dazu auffordern, die Problematik endlich anzugehen.“

Nachbesserungsbedarf im Obsorgesystem

Bis zu 60 Prozent der geflüchteten Kinder verschwinden aus (Erst-)Aufnahmezentren in Europa. „Je stärker ein Kind traumatisiert ist, desto schwieriger ist es im Aufnahmezentrum zu halten. Man weiß bei den dort Verschwundenen nicht, ob sie weitergereist sind“, sagte Winkler. „Das Obsorgesystem bezüglich unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Österreich muss man sich nochmal anschauen. Da gibt es definitiv Nachbesserungsbedarf.“

Maßnahmen zur Auffindung Abgängiger

In Österreich bemühe man sich vor allem in den letzten Jahren um Fortschritte in der Umsetzung von Maßnahmen zur Auffindung abgängiger minderjähriger Flüchtlinge. „Weiterverfolgung heißt Sensibilisierung, Schulung der Mitarbeiter aller Organisationen, die eine Rolle spielen“, erklärte Gerald Tatzgern vom Bundeskriminalamt (BK). „Wir haben vor einigen Jahren das Kompetenzzentrum für Abgängige Personen (KAP) im Bundeskriminalamt gegründet und führen auch immer wieder Gespräche mit den Betreuern, damit diese die Lage besser einschätzen können. Dadurch konnten Abgängigkeiten deutlich reduziert werden. Von diesen unbegleiteten minderjährigen Nicht-EU-Bürgern tauchen 80 bis 85 Prozent innerhalb einer Woche wieder auf.“

Betreuungszentren als wichtiger Schlüssel

Betreuungszentren seien dafür ein wichtiger Schlüssel, betonte Tatzgern. Sollte es innerhalb der ersten Tage keinen Erfolg geben, kümmere sich das KAP ganz konkret in Zusammenarbeit mit Landeskriminalämtern und Fahndungseinheiten, damit die Kinder gefunden werden. „Also wirklich viel proaktiver, als es aussehen mag.“ Ebenfalls gebe es Schulungen für Asylbedienstete und Betreuungseinrichtungen, um Menschenhandel zu erkennen, sagte Tatzgern. „Da kann man nie aufhören, aber zumindest, dass sie ein paar Indikatoren erkennen. Zum Beispiel Auffälligkeiten wie ein neues Handy, ein neuer Bekanntenkreis oder ungewöhnliche Bewegungen, sehr spätes Nachhausekommen, es gibt viele Kleinigkeiten.“

781 Minderjährige abgängig

Mit Stichtag 1. Mai 2017 waren im österreichischen Fahndungssystem 1.273 Personen als abgängig verzeichnet. Dabei handelte es sich um 781 Minderjährige und 492 Erwachsene, informierte das BK anlässlich des morgigen internationalen Tages der vermissten Kinder. Bei den Minderjährigen waren 549 jugendlich (zwischen 14 und 18 Jahre alt) und 232 unmündig (unter 14 Jahre). Seit Beginn der Flüchtlingsbewegung seien etwa 670 Kinder und Jugendliche aus Nicht-EU-Staaten als abgängig gespeichert.

Die Hälfte aller Vermissten sind Minderjährige

Etwa die Hälfte aller in Österreich als vermisst Gemeldeten sind Minderjährige, die aus Betreuungseinrichtungen weglaufen. In der Regel tauchen sie nach wenigen Tagen wieder auf oder können aufgefunden werden. Das KAP wurde 2013 geschaffen. Es unterstützt bei Abgängigkeitsfällen die ermittelnden Polizisten als internationale und nationale Drehscheibe. Zudem ist es für Ausbildungen zuständig und für die Sammlung und Aufbereitung von Datenmaterial.

Tag der vermissten Kinder

Der internationale Tag der vermissten Kinder wird seit 1983 jährlich auf Initiative des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan am 25. Mai begangen und soll auf das Schicksal von vermissten Kindern aufmerksam machen. Am 25. Mai 1979 verschwand in New York der sechsjährige Etan Patz auf dem Weg zur Schule - sein Fall erregte damals weltweit Aufsehen.