NS-Gedenken in Tschechien | Schweinemast kommt endlich weg

Wo seine Verwandten umgebracht wurden, fand Čeněk Růžička erst spät heraus. Menschenrechtsaktivisten brachten ihn zum Eingangstor eines Schweinemastbetriebs rund 80 Kilometer südlich von Prag. Sie zeigten ihm Dokumente, dass sich hier auf genau diesem Gelände das nationalsozialistische „Zigeunerlager“ Lety befunden hatte.

„Da habe ich mir geschworen, dass an diesem Ort keine Schweinemast sein darf“, sagt der 70-Jährige. Nun, 20 Jahre nach jenem Tag, wird der Wunsch des Angehörigen der Roma-Minderheit endlich in Erfüllung gehen. Das tschechische Mitte-Links-Kabinett hat den Aufkauf des Agrarbetriebs mit dem Ziel beschlossen, ihn abzureißen und damit ein würdiges Gedenken an die Hunderte Opfer des einstigen Lagers zu ermöglichen. Noch im September soll der endgültige Kaufvertrag unterzeichnet werden.

Uctění památky tábora v letech

Český rozhlas | Filip Jandourek

Gedenkstein in Lety | Tschechien

Nicht alle sind damit einverstanden. Der Vorsitzende des Ausschusses für Holocaust-Entschädigung für die tschechischen Roma Růžička hat an diesem Nachmittag an der Prager U-Bahn-Station Střížkov einen Infostand über die Schrecken des Lagers, in dem tschechische Aufseher arbeiteten, aufgebaut. Eine ältere Frau will wie viele andere Passanten auch wissen: „Was stört Sie an der Schweinezucht?“ Růžička sagt nur: „Wo sind Ihre Verwandten begraben? - Na also.“

Čeněk Růžičkas Mutter saß in dem Lager bei Písek in Südböhmen von August 1942 bis April 1943 ein, bevor sie nacheinander in mehrere deutsche Konzentrationslager verschleppt wurde. Sie habe in Lety ihren Vater verloren und ihren erstgeborenen Sohn, berichtet Růžička. Ihr erster Ehemann wurde von den Nazis ermordet. Nach dem Krieg fiel über Lety gegenüber ihren späteren Kindern kein Wort. „Sie hatte Angst, dass man uns einsperrt“, sagt er.

Čeněk Růžička

romea.cz

Čeněk Růžička | Vorsitzender, Ausschuss für Holocaust-Entschädigung für die tschechischen Roma

Tatsächlich dominierten Widerstandskämpfer und Partisanen das offizielle Geschichtsbild der Nachkriegs-Tschechoslowakei, die im März 1939 von der Wehrmacht besetzt worden war. Für Kollaborateure oder gar ein Arbeitslager für Roma unter Aufsicht der Prager Marionettenregierung im Protektorat war kein Platz.

Den Auftrag hatten die deutschen NS-Besatzer gegeben, doch Wachpersonal und Lagerleiter in Lety waren Historikern zufolge tschechische Gendarmerie-Polizisten. Bis heute hält sich in Tschechien die Vorstellung, Lety sei „nur“ ein Arbeitslager für Roma gewesen. Dabei hatte die Historikerin Sibyl Milton (1941-2000) die NS-„Zigeunerlager“ schon 1998 als „Antechamber to Birkenau“, also als Vorhof zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, bezeichnet.

Lager in Lety

Archiv

In Lety, das für 300 Insassen geplant war, wurden zeitweise 3.000 Menschen auf engstem Raum eingepfercht. „Der Hunger sei das Schlimmste gewesen, haben die Gefangenen gesagt“, berichtet Růžička. Die hygienischen Verhältnisse seien katastrophal gewesen. Die Menschen hätten sich gegenseitig warm halten müssen, um nicht zu erfrieren. Die Notdurft habe nachts in Kübeln verrichtet werden müssen.

Uctění památky tábora v letech

Český rozhlas | Filip Jandourek

Es dauerte nicht lange und eine Flecktyphusepidemie brach aus. „Die Toten wurden nicht einmal mehr weggebracht, sondern ein Graben ausgehoben, um sie vor Ort zu begraben“, berichtete der Arzt später. Bis zur Auflösung des Lagers starben 327 Menschen. Wer bis dahin überlebt hatte, wurde nach Auschwitz deportiert. Es wird geschätzt, dass dem Porajmos, dem Völkermord an den Roma, 90 Prozent aller Roma aus den tschechischen Ländern zum Opfer fielen.

Archäologen haben vor kurzem an der Stelle des früheren Lagers Lety Sondierungsgrabungen vorgenommen. Sie entdeckten Schuhsohlen und Bekleidungsreste der Insassen sowie die Perlenkette eines Mädchens. Die Studenten und Wissenschafter der westböhmischen Universität fanden zudem Reste der Baracken, des Eingangstors und des Kommandantengebäudes. Der feuchte Lehmboden konservierte das Holz.

Denkmal für Opfer des Roma-Holocaust auf dem Friedhof in Mitrovice nahe des Schweinmast auf dem Gelände des früheren KZ in Lety

APA/AFP/Michal Cizek

Gedenktafel in Lety erinnert an getötete Roma

Warum ausgerechnet an dieser Stelle in den 1970er-Jahren eine große Schweinemast gebaut wurde, in der Tausende Tiere in Ställen ihr kurzes Leben fristen? „Die Kommunisten wussten, was dort gewesen war“, meint jedenfalls Růžička und glaubt, man habe das Geschehene vertuschen wollen. Für die Überlebenden und ihre Nachkommen ein Schlag ins Gesicht: „Die Pietät steht bei uns tschechischen Roma wie bei den Sinti an erster Stelle: Respekt vor den Älteren, Respekt vor den Kranken“, erklärt der Aktivist.

Lange hatte es so ausgesehen, als käme es nie zu einer guten Lösung. Noch vor drei Jahren sagte Regierungschef Bohuslav Sobotka, statt für den Ankauf der Schweinemast solle das Geld lieber für die Bildung von Roma-Kindern ausgegeben werden. Mahnungen des UNO-Menschenrechtsausschusses verhallten. Dass es nun doch klappt, liegt in erster Linie an einem Politiker, dem christdemokratischen Kulturminister Daniel Herman, der das Projekt durchgeboxt hat. Čeněk Růžička sagt: „Er wird in die Geschichte der Roma eingehen.“

Von Michael Heitmann | dpa