Marginalisierte Jugend nach 1945

In der Nachkriegszeit lebten sie quasi in einer Parallelgesellschaft, mit ihren Nachbarn hatten sie wenig gemein: Die Kinder von kommunistischen Widerstandskämpfern, die kurz nach 1945 aus Exil oder KZ nach Österreich zurückkehrten.

Ihrem Aufwachsen, ihren Erinnerungen an die Lebensgeschichten der Eltern und ihren Werten widmet sich eine Studie, die nun als Buch veröffentlicht wurde.

"Kinder der Rückkehr. Geschichte einer marginalisierten Jugend" von Ernst Berger und Ruth Wodak - Springer Verlag

Springer VS

Ernst Berger, Ruth Wodak: Kinder der Rückkehr. Geschichte einer marginalisierten Jugend. Springer Verlag, 345 Seiten. 51,39 Euro. ISBN 978-3-658-20849-3

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Gruppe der „Kinderjause“

„Kinder der Rückkehr“ meint rund 200 heute 65- bis 75-Jährige, die sich seit 2001 als Gruppe der „Kinderjause“ regelmäßig treffen. Gemein ist ihnen, dass sie als Kinder von Eltern aufgewachsen sind, die die Zeit des Nationalsozialismus überlebten und nach Österreich zurückkehrten, um im Glauben an eine bessere Welt das demokratische oder vielleicht sogar sozialistische Österreich aufzubauen. Viele dieser Rückkehrer waren als Kommunisten und Juden doppelt stigmatisiert, in allen Familien waren Mitglieder von den Nazis ermordet worden.

Interviews mit 29 „Kinderjausnern“

29 dieser „Kinderjausner“ und acht ihrer Kinder wie auch einige Enkelkinder haben die Sprachsoziologin und Diskursforscherin Ruth Wodak und der Kinderpsychiater und Entwicklungsforscher Ernst Berger, selbst Teil der Gruppe, für ihr Projekt interviewt, das nun in Buchform im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) in Wien präsentiert wurde. Ziel war es, den Umgang mit der Geschichte der Eltern und deren Weitergabe an die nächste Generation zu erforschen - mit zum Teil überraschenden Ergebnissen. „Stark aufgefallen ist uns eine erstaunliche Resilienz“, nannte Wodak im Gespräch mit der APA eines dieser Resultate, das im Gegensatz zu den Ergebnissen zahlreicher Untersuchungen über Kinder von Holocaust-Überlebenden steht.

Identifikation mit Kampf gegen Faschismus

Trotz schlimmster Erlebnisse verstanden sich die Eltern nicht primär als Opfer, weit mehr identifizierten sie sich mit ihrem Kampf gegen Faschismus und das NS-Regime. „Das hat sich auf die Kinder übertragen“, berichtet Wodak, Kind sozialdemokratisch engagierter, jüdischer Eltern, denen die Flucht nach England gelungen war. Auch sie kamen kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Wien zurück. „Sie (die Kinderjausner, Anm.) gingen mit sehr viel Hoffnung und dem Ziel, weiterzumachen, in die Zukunft.“ Vielleicht auch deshalb, weil die meisten den Zusammenhalt untereinander und in den KP-Organisationen als Kraftquelle und Kompensation für die Belastungen der Ausgrenzung im Nachkriegsösterreich erlebten.

Wenige Kenntnisse über „Flucht und Gefangenschaft“

„Über die Flucht und Gefangenschaft ihrer Eltern kannten die Interviewten nur wenige Einzelheiten“, viele hätten aus Selbstschutz auch gar nicht nachgefragt. Über die NS-Verbrechen habe man in ganz Österreich lange geschwiegen - aus unterschiedlichen Gründen: Die Rückkehrer zum Schutz ihrer Kinder und um sich auf ihre politische Arbeit zu konzentrieren, der Rest der Bevölkerung, weil sie nicht mit „den schrecklichen Verbrechen“ konfrontiert werden oder zugeben wollten, selbst „zugeschaut oder an Verbrechen teilgenommen“ zu haben.

„Tränengeschichte“ als abgespaltete Erinnerung

Völlig überraschend für die Autoren war, dass viele Interviewte trotz starker Resilienz und (ambivalenter) Distanzierung eine „Tränengeschichte“ hatten, die immer wieder teilweise wortgleich mit „großen“ Emotionen erzählt wurde. „Es ist ein Ereignis, das quasi stellvertretend für alles Schreckliche, das die Eltern erlebt haben, verinnerlicht wurde. Eine Erinnerung, die abgespalten wurde, zu der es kaum Distanz gibt, auch bei den rationalsten Gesprächspartnern“, so Wodak.

Politische und moralische Haltungen mitbekommen

Von ihren Eltern haben die „Kinder der Rückkehr“ klare politische und moralische Haltungen mitbekommen. Die meisten gingen allerdings - wie auch fast alle Eltern - spätestens nach dem Einmarsch der Rotarmisten in der Tschechoslowakei 1968 auf Distanz zur KPÖ, bis auf zwei Ausnahmen blieb niemand in der Politik. Der Großteil der „Kinderjausner“ landete in kreativen, sozialen und intellektuellen Berufen in der Mitte der Gesellschaft, ohne sich völlig dem Mainstream anzupassen, darunter auch einige bekannte Persönlichkeiten wie der Lyriker und Autor Robert Schindel, die Journalistin Susanne Scholl oder die Sozialökologin Marina Fischer-Kowalski.