Jede Minute 20 neue Vertriebene weltweit

Seitdem die Balkanroute geschlossen ist und die Türkei für Europa Flüchtlinge aufhält, schaffen es nur noch relativ wenige, sich bis in die EU durchzuschlagen. Problem gelöst? Mitnichten.

Die Flüchtlingskrise scheint weit weg: keine Bilder mehr von Menschenschlangen an der Grenze, von überfüllten Asylunterkünften, Verzweifelten an geschlossenen Grenzübergängen, keine Sondersendungen mehr über chaotische Zustände in Europa. Ist die Krise damit vorbei? Keineswegs. Weltweit werden jede Minute 20 Menschen in die Flucht getrieben. Der Weltflüchtlingsbericht zeichnet ein düsteres Bild.

65,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene weltweit, wo sind die Menschen alle?

84% der Vertriebenen in Entwicklungsländern

Die Türkei beherbergte 2016 weltweit die meisten Flüchtlinge, 2,9 Millionen. Der Libanon hat gemessen an der eigenen Bevölkerung den meisten Menschen Zuflucht geboten. In dem Land am Mittelmeer, kaum größer als Kärnten, war jeder sechste Bewohner Flüchtling. Pakistan beherbergte 1,4 Millionen Geflüchtete, Iran und Uganda je fast eine Million, Äthiopien fast 800.000, Jordanien fast 700.000. 84 Prozent der Vertriebenen sind in Entwicklungsländern. „Dies ist keine Krise der reichen Welt, sondern eine Krise der Entwicklungsländer“, betont der Chef des UNO-Flüchtlingswerks (UNHCR), Filippo Grandi. Für Deutschland nennt das UNHCR 669.500 Flüchtlinge, Platz 8.

Wo ist die Not am größten?

5,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien

Die meisten Flüchtlinge stammen nach wie vor aus Syrien, 5,5 Millionen. Im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat gewinnt die Regierung zwar Oberhand, aber mit den untereinander rivalisierenden Oppositionskämpfern ist keine Annäherung in Sicht. Die zweitgrößte Gruppe kommt aus Afghanistan (2,5 Millionen). Am rasantesten verschärfte sich die Krise aber in Südsudan. 2016 waren schon zwölf Prozent der zwölf Millionen Einwohner des jungen Landes vor einem ethnisch verfeindeten Bürgerkriegsparteien auf der Flucht, inzwischen sind es schon 17 Prozent. Die selbst bitterarmen Nachbarländer können den Ansturm kaum bewältigen.

Gegen Flüchtlinge wird aus der rechten Ecke immer mit Bildern gewaltbereiter junger Männer Stimmung gemacht. Stimmt das überhaupt?

51% der Flüchtlinge unter 18 Jahren

Nein. Die Hälfte der Flüchtlinge, 51 Prozent, sind unter 18. Gerade Familien nehmen größte Gefahren in Kauf, um ihre Kleinen vor Krieg, Gefechten, Gewalt und Verfolgung zu retten. Zudem sind 75.000 Kinder sogar ohne Eltern unterwegs, teils, weil sie auf der Flucht getrennt wurden oder weil die Eltern, wenn sie Menschenschmuggler bezahlten, nur Geld für die Kinder hatten. Kinder würden besonders leicht Opfer von Entführungen, sexuellem Missbrauch oder sogar Organhandel, so die SOS-Kinderdörfer. „Viele von ihnen leiden unter enormem Stress: Sie haben Kriege oder Hunger erlebt, schlimme Erfahrungen auf der Flucht gemacht und müssen nun ohne Familie in einer neuen Kultur klarkommen“, sagt Orso Muneghina, Leiter des Nothilfe-Programms der SOS-Kinderdörfer in Italien.

Wie hat die EU nach dem Andrang 2015 reagiert?

Schutz vor ungewollter Migration

„Wir sollten niemals erlauben, dass sich das Chaos von 2015 in Europa wiederholt“, sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk. Grenzschließungen und Zäune auf der Balkanroute haben die Zahl der Asylsuchenden ebenso nach unten gedrückt wie der Flüchtlingspakt mit der Türkei. Außerdem wurde die EU-Grenzschutzagentur Frontex ausgebaut, damit sie Länder an den Außengrenzen der Europäischen Union künftig besser vor ungewollter Migration schützen helfen kann.

Hilft Europa nicht auch den Herkunftsländern?

Migrationspartnerschaften nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche

Im eigenen Interesse, ja. Die sogenannten Migrationspartnerschaften funktionieren nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche. Wer mit Europa in solchen „Partnerschaften“ zusammenarbeitet, soll mehr Entwicklungsgelder bekommen. Als Musterschüler gilt Niger. Das Transitland in Westafrika habe den Grenzschutz und den Kampf gegen Schleuser verstärkt. Dafür bekommt es Unterstützung für die Landwirtschaft, bei beruflicher Ausbildung und Jugendbeschäftigung. Weniger Fortschritte gibt es in Nigeria, Mali, Senegal und Äthiopien.

Sind sich die EU-Staaten einig beim Umgang mit Flüchtlingen?

Keine dauerhafte Lösung zur Verteilung von Migranten

Keinesfalls. Wegen ihrer Weigerung, Italien und Griechenland Flüchtlinge abzunehmen, geht die EU-Kommission nun gegen Ungarn, Polen und Tschechien vor. Die Slowakei und Ungarn klagen ihrerseits vor dem Europäischen Gerichtshof gegen den Beschluss zur Umverteilung von bis zu 120.000 Flüchtlingen. Und der Versuch, eine dauerhafte Lösung zur besseren Verteilung von Migranten zu finden, kommt nicht voran. Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl in Deutschland fürchten, dass sich die EU-Staaten nur auf die Absenkung von Schutzstandards einigen.

Was will der UNHCR-Chef von den reichen Ländern?

Geld & Programme zur Verbesserung der Lage in Krisenregionen

Einerseits Geld. Die meisten Spendenaufrufe sind nicht einmal zu einem Viertel gedeckt. Manchmal müssen Essensrationen in Flüchtlingslagern gekürzt werden. „Dann werden die Lager Horte der Verzweiflung“, berichtet Grandi. Mehr Leute versuchten dann, sich auf eigene Faust nach Europa durchzuschlagen. Andererseits dringt Grandi auf mehr Programme, die die Lage in den Krisenregionen verbessern, damit die Menschen dort eine Chance auf einen Neuanfang bekommen.

USA größter Geldgeber des UNHCR

Übrigens: die USA sind nach wie vor mit Abstand der größte Geldgeber des UNHCR. 51 Prozent der 189.000 Menschen, die 2016 eine neue Heimat fanden, wurden in den USA aufgenommen. Obwohl Präsident Donald Trump die angepeilte Zahl für die permanente Aufnahme von Flüchtlingen auf 50.000 halbiert hat, wäre das immer noch das größte Ansiedlungsprogramm der Welt.

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