„Verstörungen“ und „Errettungen“ der Flucht
Der in Wien lebende Autor ist mit seinen Eltern als Sechsjähriger von Bulgarien in den Westen geflüchtet. Sein eben erschienenes neues Buch „Nach der Flucht“ widmet er seinen Eltern, „die mich mit der Flucht beschenkten“.
S. Fischer Verlag
Ilija Trojanow: Nach der Flucht, S. Fischer, 126 Seiten, 15,50 Euro, ISBN: 978-3-10-397296-2
Link:
Interkulturelle Erfahrungen
Trojanow, 1965 in Sofia geboren, ist ein ungewöhnlicher und ein ungewöhnlich vielseitiger Schriftsteller. Seine in langen Aufenthalten u.a. in Kenia, Indien und Südafrika gesammelte interkulturellen Erfahrungen haben sich in Reportagen oder Romanen wie „Der Weltensammler“ niedergeschlagen, sein Engagement gegen Überwachungsstaat und für Bürgerrechte („Angriff auf die Freiheit“ u.a.) hat ihm etwa ein Einreiseverbot in die USA eingetragen. Mit „Macht und Widerstand“ hat der Weltbürger, dem vor wenigen Tagen der Heinrich-Böll-Preis zuerkannt wurde, ein viel gerühmtes Epos über den kommunistischen Machtapparat in Bulgarien verfasst, mit „Meine Olympiade“ einen unterhaltsamen Selbsterfahrungsbericht in 80 olympischen Disziplinen vorgelegt.
Migranten als Teil der Menschheitsgeschichte
Der schmale Band „Nach der Flucht“ fußt zwar sicher auch auf Erfahrungen Trojanows und seiner Familie, sei aber vor allem aufgrund vieler Gespräche, die er zu diesem zentralen Thema unserer Zeit geführt habe, entstanden, sagt er. Es geht ihm einerseits darum, den Begriff des Migranten nicht als Ausnahme, sondern als eine selbstverständlichen Teil der Menschheitsgeschichte zu beschreiben und ihm das Feindbildhafte zu nehmen, andererseits die wertvollen Erfahrungen, die eine Flucht mit sich bringt, ebenso zu beschreiben wie ihre Verletzungen. Dementsprechend erzählt der erste Teil des Buches „Von den Verstörungen“, der zweite Teil „Von den Errettungen“.
Aphorismen, Beobachtungen, Kurz-Essays, Dramolette
Es sind Aphorismen, Beobachtungen, Kurz-Essays und Dramolette, die, von I. („Die Flucht rechtfertigt sich selbst, das Leben danach stellt immer wieder neue Fragen“) bis XCIX. römisch durchnummeriert, zunächst hinaufgezählt werden, ehe der Countdown von 99 wieder zurück geht - bis Trojanow wieder bei 1 angelangt ist: „Erst wenn er sich von den Zuschreibungen der Herkunft und den Zumutungen der Ankunft losgelöst hat, ist der Geflüchtete wirklich frei.“
„Die Menschheit kann nur kosmopolitisch überleben“
Vieles, was Trojanow festhält, wirkt selbstverständlich, und manches an dem versammelten Textmaterial erinnert an Sinnspruch oder Lehrbuch. Beeindruckend ist dagegen die radikal positive und auch schlüssige Argumentation, welche die Vorteile der Bewegung betont: Mobilität im Geografischen und Flexibilität im Denken gehen Hand in Hand, Vielsprachigkeit ist wichtiger als sentimentale Verwurzelung. Der Autor, der in der kommenden Saison im Volkstheater Wien Gastgeber einer Gesprächsreihe sein wird („Trojanow trifft“), ist überzeugt, dass es sich dabei um eine Überlebensfrage handelt. „Die Menschheit kann nur kosmopolitisch überleben“, schreibt er. „Der Nationalist im 21. Jahrhundert ist ein Apokalyptiker.“