„Ich will den Opfern ihre Würde lassen“

Mit „The Cut“ beendet Fatih Akın seine Trilogie um Liebe, Tod und den Teufel. Der Film thematisiert das Schicksal der Armenier während des Osmanischen Reiches vor knapp 100 Jahren.

In einem Interview mit der deutschen Presseagentur dpa sprach der 41-jährige deutsch-türkische Regisseur beim Filmfestival von Venedig über Tabus, das Wegschauen bei Gräueltaten und Gewalt in Filmen.

„The Cut“

Der Film des Deutsch-Türken spielt vor rund 100 Jahren. 1915 werden eines Nachts alle armenischen Männer von der türkischen Polizei verhaftet, so auch Nazaret Manoogian (Tahar Rahim). Fortan werden er und die anderen Verschleppten gezwungen, Zwangsarbeit zu verrichten - bis der Befehl kommt, alle Inhaftierten zu töten. Wie durch ein Wunder überlebt Manoogian den Völkermord aber und macht sich auf die Suche nach seiner Familie.

Der deutsch-türkische Regisseur Fatih Akın anlässlich der 71. Internationalen Filmfestspiele in Venedig

APA/EPA/Andrea Merola

Der deutsch-türkische Regisseur Fatih Akın anlässlich der 71. Internationalen Filmfestspiele in Venedig

dpa: Warum lag Ihnen dieses Thema am Herzen?

Akın: Ich habe mir das Thema nicht ausgesucht - das Thema hat mich gefunden. Ich bin dem Thema so gefolgt, wie bestimmte Insekten dem Licht. Das kann ich gar nicht konkreter beschreiben. Mich hat vor allem Neugier getrieben. Es ist dieses gefährliche, verbotene Tabu-Thema. Immer wenn etwas verboten ist, werde ich hellhörig. Als ich mich dann immer weiter in das Thema vertieft habe, habe ich viel Angst entdeckt. Da war mir klar: Wenn ich meine Trilogie über die menschliche Existenz zu Liebe, Tod und dem Teufel vollenden möchte, dann sollte ich mich selbst mit Ängsten konfrontieren - wie der Angst, die eigene Geschichte zu reflektieren.

dpa: Wie wird dieses Thema Ihrer Einschätzung nach in der Türkei wahrgenommen? Gibt es da Veränderungen?

Akın: Ja, definitiv. In der Türkei hat sich eine kritische Bewegung gegründet, eine Art Aufbegehren, das jeden Tag fortgesetzt wird. Ich gehöre zu dieser Bewegung, nicht als Anführer, aber als ein Teil. Ich sehe das nicht als etwas Revolutionäres, sondern als reflektierende und demokratische Bewegung. Dieser Film ist aus dieser Bewegung erwachsen. Wenn ich also sehe, wie dieses Thema noch vor ein paar Jahren ein Riesentabu war, dann sehe ich eine Entwicklung zum Besseren.

dpa: Zur Zeit der Vertreibungen war das Osmanische Reich ein Alliierter des Deutschen Kaiserreiches. Muss auch in Deutschland mehr aufgearbeitet werden?

Akın: Wissenschafter erforschen noch immer die Rolle der Deutschen. Sie waren aber insofern involviert in den Genozid, als dass sie wussten, was passierte. Sie schwiegen, sie ließen es geschehen. Die Kriegsstrategie des Deutschen Kaiserreiches damals war, das Osmanische Reich nicht als Alliierten zu verlieren. Deswegen wollten sie nicht eingreifen. Ob sie die Massentötungen auch logistisch unterstützten, wird noch untersucht. Es ist aber bezeichnend, dass die deutsche Regierung den Völkermord bis heute nicht als Völkermord anerkennt.

dpa: Sie zeigen im Film zwar den Schnitt in den Hals des Protagonisten, durch den er seine Stimme verliert. Ansonsten halten Sie sich trotz des brutalen Themas mit Gewaltszenen zurück. Warum?

Akın: Ich wollte keinen pornografisch-gewalttätigen Film drehen. Ich schaue nicht, welches Gewaltlevel in anderen Filmen heute Standard ist. Ich weigere mich, mich da irgendwie anzupassen. Für mich ist Gewalt sehr hässlich, sehr brutal, nicht ästhetisch. Ich zeige sie, wenn ich sie zeigen muss, aber nicht mehr als notwendig. Die Welt ist gewalttätig genug, YouTube und Facebook sind gewalttätig genug. Ich will meine Augen nicht verschließen, aber ich will den Opfern auch ihre Würde lassen.

„Gegen die Wand“ & „Soul Kitchen“

Fatih Akın ist einer der renommiertesten Regisseure aus Deutschland. Er wurde als Sohn türkischer Einwanderer in Hamburg geboren. Erste größere Erfolge als Regisseur feierte er vor fast 15 Jahren mit „Im Juli“ und der Tragikomödie „Solino“ um italienische Einwanderer. Für das Drama „Gegen die Wand“ um eine junge Deutsch-Türkin wurde er 2004 bei der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Für „Soul Kitchen“ gab es 2009 den Spezialpreis der Jury in Venedig.

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