Gespenst des „Sozialtourismus“

Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Sozialtourismus. Dass es sich dabei tatsächlich um eine substanzlose Wesenheit handelt, darüber sind sich Hilfsorganisationen, Sozialrechtsexperten und EU-Vertreter einig.

Diese Einigkeit wurde gestern Abend im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema „Die Herausforderungen des Sozialen Europas“ bekundet.

„Unfassbar scheinheilige Entschuldigung“

Für Caritas-Direktor Michael Landau ist sie „eine unfassbar scheinheilige Entschuldigung dafür, nicht allen helfen zu müssen“. Landau war der Einladung der Kanzlei von Rechtsanwalt Gabriel Lansky gefolgt, über Sinn und Unsinn der Sozialtourismus-Debatte zu diskutieren - und er findet sie „noch grotesker, noch obszöner“, seit er wieder aus Rumänien zurück ist, „wo zwei Autostunden von Wien entfernt jedes zweite Kind in Armut lebt.“

Gleiches Engagement wie bei Bankenrettung

Die Debatte, die, wie Landau erinnerte, im Vorjahr durch einen Brief der Innenminister Österreichs, Deutschlands, der Niederlande und Großbritanniens ins Rollen gebracht worden war, sei eine, „die kein Mensch braucht“ und deren Grundlage auch längst allerorten als nicht existent erkannt worden sei. Was die gemeinschaftliche Hilfe für Probleme von Staaten wie Rumänien betrifft, „erwarte ich von der Europäischen Union die gleiche Energie, das gleiche Engagement wie bei der Bankenrettung“, forderte Landau. „Das Unsichtbar-machen von Menschen“, meinte er in Anspielung auf die in diesem Zusammenhang immer wieder diskutierten Bettelverbote, „löst keine Probleme“.

EU-Studie widerlegt Sozialtourismus-Stereotyp

Ungeteilte Zustimmung fand der Caritas-Chef bei Richard Kühnel, dem Leiter der EU-Kommissionsvertretung in Österreich. „Polemisch und oberflächlich“ sei die Sozialtourismus-Debatte, daher habe die Kommission eine Studie in Auftrag gegeben, um die Fakten hinter dem Schlagwort zutage zu fördern. Die Zahlen, die Kühnel gestern daraus zitierte, zeichnen ein ganz anderes Bild: So machten die „nicht aktiven EU-Migranten“, also jene ohne Beschäftigung, ganze 0,7 bis 1 Prozent der Bevölkerung aus, Tendenz sinkend. Die Beschäftigungsrate der Migranten sei auch allerorts höher als die der jeweiligen Einheimischen, fügte Kühnel an - und die Studie bekräftige auch einmal mehr, dass Migranten im Schnitt mehr in Sozialsysteme einzahlten, als sie daraus bezögen: „Die Menschen kommen, um Arbeit zu suchen.“

„Die EU ist eben keine Sozialunion“

Kühnel räumte allerdings ein, dass Europa mittlerweile bereits 125 Millionen Armutsgefährdete und mehr als vier Millionen Obdachlose beherberge, darunter immer mehr Frauen, Jugendliche und selbst Kinder. „Die EU ist eben keine Sozialunion“, erinnerte der EU-Vertreter daran, „dass uns die Mitgliedsstaaten Verträge gegeben haben, in denen sie Sozialkompetenzen und -budgets nur in sehr überschaubarem Rahmen an uns abgeben.“ Letztlich sei das gesamte EU-Budget - auch unter Beteiligung Österreichs - krisenbedingt reduziert worden. Eine strukturelle Änderung bedürfe einer neuen Mittelverteilung, die mehr Geld in die Sozialfonds leite. Letztlich beinhalteten aber auch die EU-2020-Ziele erstmals die Reduktion der Armut in Europa - „aber wir dürfen nicht naiv sein, dass das nicht alles andere als leicht ist.“