Prag hielt aus Angst vor Angriff Hitlers still

Die Tschechoslowakei hat beim „Anschluss“ Österreichs stillgehalten, um nicht selbst vom deutschen Diktator Adolf Hitler ins Visier genommen zu werden. Dies betont der tschechische Historiker Vít Smetana. Berlin habe Prag am 11. März 1938 versichert, dass keine Gefahr drohe. Diese kam aber bald von innen: Der „Anschluss“ animierte die Sudetendeutschen zu einem forscheren Auftreten.

Vít Smetana

Institute for the Study of Totalitarian Regimes

Vít Smetana

Die Prager Regierung erkannte schon Mitte Februar 1938, dass die Lage ernst war, erläutert der Zeitgeschichte-Dozent an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften im APA-Gespräch. So habe Hitler am 20. Februar 1938 eine Rede gehalten, in der er sagte, „dass es in Österreich und der Tschechoslowakei zehn Millionen Deutsche gebe, die irgendwie diskriminiert und unterdrückt seien und dass man damit etwas tun müsse“.

Nach der Ansprache, die paradoxerweise auch vom tschechoslowakischen Rundfunk ausgestrahlt worden sei, hätten in Prag die Alarmglocken geschrillt. Ministerpräsident Milan Hodža habe mit Präsident Edvard Beneš eine öffentliche Reaktion vereinbart. So sagte Hodža am 4. März 1938 im Abgeordnetenhaus, dass die Tschechoslowakei keine Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten dulden werde, egal von wem und unter welchem Vorwand sie komme.

Aggression genau verfolgt

Beneš Hodža

ČTK

Edvard Beneš und Milan Hodža auf dem Prager Burg, 31. 12. 1937

Smetana betont, dass Prag die deutsche Aggression gegenüber Österreich genau verfolgt habe. So seien auch die Überflüge der deutschen Luftwaffe über tschechoslowakischem Gebiet genau registriert und dem Westen gemeldet worden. Keine Indizien gebe es dafür, dass sich die um ihr Überleben kämpfende österreichische Regierung an Prag um Unterstützung gewandt hätte. „Davon weiß ich nichts“, sagt der Historiker. Eine solche Hilfe wäre auch „sehr unwahrscheinlich und vergänglich“ gewesen, „wenn nicht auch die Großmächte eingegriffen hätten“.

Vila Sezimovo Usti Benes

Šechtl & Voseček Archiv

Villa in Sezimovo Ústí

„Nicht einmal Beneš erwartete jedoch, dass die Großmächte irgendwie eingreifen würden“, hält Smetana fest. „Selbstverständlich war die Vorstellung, dass die Tschechoslowakei irgendwie eingreifen würde, nicht realistisch. Es war offensichtlich, dass so etwas den unberechenbaren deutschen Kanzler zu einem aggressiven Schritt gegen die Tschechoslowakei anregen würde. Deswegen hat die tschechoslowakische Führung nichts mehr unternommen.“ Bemerkenswert sei, dass Beneš in der Zeit des „Anschlusses“ Prag verließ und sich zwei Tage lang in seiner Villa in Sezimovo Ústí (Alttabor) aufhielt.

Wichtig war laut Smetana, dass die Tschechoslowakei am Tag des Zusammenbruchs Österreichs die Zusicherung Deutschlands erhalten habe, dass ihr keine Gefahr drohe. Sowohl Hermann Göring als auch Außenminister Konstantin von Neurath hätten dem tschechoslowakischen Gesandten in Berlin, Vojtěch Mastný, am 11. März mündlich versichert, dass Deutschland keine Forderungen gegenüber der Tschechoslowakei habe. Beneš habe Mastný dann instruiert, diese Garantien auch schriftlich zu bekommen. „Selbstverständlich ist das nicht passiert“, so Smetana.

Grenzbefestigungen aufgebaut

Freilich sei Beneš „nicht so naiv“ gewesen, den Versprechen zu glauben. Tatsächlich habe die Tschechoslowakei nach dem „Anschluss“ begonnen, „fieberhaft Befestigungen auch an der südlichen Grenze aufzubauen“. Diese Rieseninvestition sei mit Schulden finanziert worden. Im Mai 1938 kam es zu einer Teil-Mobilmachung der Armee, die aber schon mit der Sudetenkrise und Informationen über angebliche deutsche Truppenbewegungen zusammenhing.

"Anschluss" Österreichs | Deutsche Truppen überschreiten am 13. März 1938 die österreichische Grenze in Schärding

Bundesarchiv

„Anschluss“ Österreichs | Deutsche Truppen überschreiten am 13. März 1938 die österreichische Grenze in Schärding

„Eindeutig“ habe sich der „Anschluss“ auf die Beziehungen zwischen den Nationalitäten in der Tschechoslowakei ausgewirkt, betont Smetana. Gestiegen sei das Selbstbewusstsein der nicht-pro-tschechoslowakisch gesinnten Sudetendeutschen. Sie hätten intensiv weitere Zugeständnisse von der Prager Regierung gefordert, darunter die Autonomie. Man wisse, dass der Chef der Sudetendeutschen Partei (SdP), Konrad Henlein, Instruktionen von Hitler erhalten habe. Henlein habe unmittelbar nach dem „Anschluss“ erklärt, dass die SdP der „einzige legitime Repräsentant der sudetendeutschen Volksgruppe“ sei. Am 17. März habe die SdP-Führung andere Parteien der Sudetendeutschen aufgefordert, sich mit der SdP zusammenzuschließen, was die Bauernvertreter und Christsozialen gleich getan hätten. Die SdP habe auch begonnen, ein „Spiel der Autonomisierung der gesamten Tschechoslowakei zu spielen“. Sie habe anderen Volksgruppen empfohlen, auch die Autonomie zu fordern.

Münchner Abkommen 1938

wdr

Münchner Abkommen unterzeichnet, 29. 9. 1938

„In gewisser Weise“ habe der Weg zum berüchtigten Münchener Abkommen zur Abtretung der Sudetengebiete über den „Anschluss“ geführt, bestätigt Smetana. Bedeutsam sei nämlich gewesen, dass die Großmächte im Fall Österreichs nicht eingegriffen hätten. Auch bei der Tschechoslowakei hätten sie sich an diese Linie gehalten. So habe die unter starkem britisch-französischen Druck stehende tschechoslowakische Regierung schließlich am 21. September 1938 der Abtretung der deutschsprachigen Grenzgebiete an Deutschland zugestimmt - neun Tage vor der Unterzeichnung des Münchener Abkommens.

Link

Vít Smetana | Institute of Contemporary History (USD) | Czech Academy of Sciences